| # taz.de -- ZDF-Doku über Kindesmissbrauch: Sei doch mal ein liebes Kind | |
| > Die ZDF-Doku „Das dunkle Geheimnis“ widmet sich dem Versagen des Systems | |
| > Familie, der Keimzelle des sexuellen Missbrauchs. | |
| Bild: Johanna hat lange gebraucht, das Erlebte auszusprechen | |
| Als es anfing, war Anne sechseinhalb. Der Freund der Mutter machte „Spiele“ | |
| mit ihr. Spiele, die Grenzen überschritten, ausufernder und gewalttätiger | |
| wurden. Sexueller. Solche Begriffe kannte das Mädchen nicht, wollte aber | |
| bald nicht mehr mitspielen. Da hielt sie die Mutter fest und befahl: „Sei | |
| doch mal ein liebes Kind!“ Mit 12 Jahren musste Anne wegen innerer | |
| Verletzungen operiert werden, ein halbes Jahr später versuchte sie sich | |
| umzubringen. Mit 15 wog sie noch 36 Kilo. | |
| Bei Johanna war es der Vater. Sie war 4, er vergewaltigte sie, bis sie 13 | |
| wurde und anfing, sich zu wehren. Urte wiederum wurde von ihrem Opa | |
| jahrelang sexuell missbraucht. „Damals in der Familie hieß es immer: | |
| Großvater hat Mädchen einfach lieber“, sagt sie und schaut zornig in die | |
| Kamera. „Das ist so gemein!“ | |
| Urte, Anne, Johanna – der Film „Das dunkle Geheimnis“, der in der | |
| ZDF-Doku-Reihe „37 Grad“ (Dienstag, ZDF, 22:15 Uhr) läuft, nähert sich | |
| schnörkellos und sehr persönlich einem hässlichen Thema. Laut aktuellen | |
| Zahlen der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie | |
| erfährt fast jedes siebte Kind in Deutschland sexuelle Gewalt. Die meisten | |
| Täter kommen aus der Familie oder deren Umfeld. | |
| ## Hort von Zusammenhalt und Fürsorge | |
| Neu ist das nicht – trotzdem wird zu wenig darüber gesprochen. Nicht in den | |
| Familien, in denen Machtgefüge und Mitwissende Täter stützen. Und nicht in | |
| der Gesellschaft, die das Privatleben als Hort von Zusammenhalt und | |
| Fürsorge hochhält und schützt. Dass es auch im Privaten und Intimen | |
| Strukturen gibt, in denen Einzelne andere verletzen und andere (oft die | |
| Mütter) tatenlos zusehen und schweigen, ist trauriger Alltag. | |
| Die Filmemacherin Mechthild Gaßner hebt gleich zu Anfang hervor, dass keine | |
| der Geschichten ungewöhnlich ist – wohl aber der Mut der Protagonistinnen, | |
| sie zu erzählen. Nur mit Vornamen, aber mit ihrem Gesicht; nur Johanna | |
| trägt vor der Kamera dunkle Sonnenbrille und Perücke. Um ihrer Familie | |
| nicht zu schaden – obwohl die jahrelang ignoriert hat, was der Vater mit | |
| ihr machte. | |
| Gaßner nimmt sich Zeit für solche Widersprüche, lässt sie stehen. Ihr Film | |
| bleibt sehr nah an den drei Frauen mit ihren Schicksalen, die pars pro toto | |
| für das krasse Versagen des Systems Familie stehen: eine Kindheit, nicht | |
| als Entwicklungsphase, sondern als persönlichkeitszerstörendes dunkles | |
| Loch, aus dem herauszuarbeiten sich Betroffene oft ein ganzes Leben lang | |
| abmühen. | |
| Mit welch unterschiedlichen Strategien das gelingen kann, dafür stehen die | |
| drei Frauen, die man weinen sieht und stammeln, die aber nicht wie Opfer | |
| wirken, sondern wie Menschen, die versuchen, eine verlorene Jugend in eine | |
| gelingende Lebensgeschichte umzuwandeln. | |
| ## Selbstmordversuche, Therapien | |
| Die Fränkin Anne lebt in ihren Fünfzigern mit Partner in einem selbst | |
| renovierten Bauernhaus, sie studiert Kunst. Es ist eine fragile und sehr | |
| mühsam erkämpfte Idylle: 16 Unterleib-OPs, Folge der brutalen | |
| Vergewaltigungen. Zwei Selbstmordversuche, ständige Schmerzen, die Rente | |
| mit vierzig. Erst dreißig Jahre später konnte sich Anne dem Erlebten nähern | |
| und ist seither in Therapie. | |
| Für Urte ist es die professionelle Distanz als Mitarbeiterin einer | |
| Beratungsstelle, die ihr hilft, das eigene Schicksal anzunehmen: nicht | |
| Opfer bleiben, sondern das Erlebte positiv ummünzen, um anderen helfen zu | |
| können. Jede Betroffene hat ihre eigene Strategie – und alles ist in | |
| Ordnung, sagt sie: „Auch das totale Verdrängen kann eine erfolgreiche | |
| Methode sein.“ Für sich selbst wagt Urte die Konfrontation. Mit ihrem | |
| Bruder schaut sie ein altes Familienalbum an: Das kleine Mädchen im roten | |
| Kleid auf dem Schoß des Opas: „Wie er da die Hand auf meinem Bauch hat – | |
| das war ja schon die Zeit der Übergriffe.“ Ihr Bruder murmelt betreten: | |
| „Das habe ich natürlich nicht mitbekommen.“ | |
| Johanna hat lange gebraucht, das Erlebte überhaupt auszusprechen. Fünf | |
| Geschwister hat sie. „Es war normal, dass keiner mich sieht“, sagt sie. | |
| Heute will sie sichtbar sein, hat aber gleichzeitig Angst, ihre Familie zu | |
| spalten. Am Schluss zieht sie die Perücke vom Kopf und geht davon. Leider | |
| endet damit auch der Film, dem man noch mehr analytische Momente gewünscht | |
| hätte, der aber vor allem eines ist: ein gelungenes Gesprächsangebot. | |
| 30 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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