# taz.de -- Kinderschutzbundchef über Missbrauch: „Man muss auch das Kind be… | |
> Im Breisgau hatte eine Mutter gemeinsam mit ihrem Partner ihren Sohn zum | |
> Missbrauch angeboten. Der Chef des Kinderschutzbundes über | |
> Behördenversagen. | |
Bild: „Für die Art von krimineller Energie bei einer leiblichen Mutter hat m… | |
taz: Herr Hilgers, in einem spektakulären Fall im Breisgau wird ein Junge | |
von einem Familiengericht zu seiner Mutter zurückgeschickt, die ihn mit | |
ihrem Lebensgefährten, der schon wegen Missbrauchs und dem Besitz von | |
Kinderpornografie vorbestraft ist, im Netz Freiern anbietet. Welche | |
Schutzmaßnahmen haben da versagt? | |
Heinz Hilgers: Das Jugendamt hatte zunächst entschieden, das Kind aus der | |
Familie zu nehmen, und ist dann vom Familiengericht gestoppt worden. Das | |
Familiengericht hat stattdessen die Auflage verhängt, dass der | |
Lebensgefährte der Mutter, gegen den jetzt ermittelt wird, sich dem Kind | |
nicht mehr nähern darf. Das Familiengericht sagt jetzt, das Jugendamt sei | |
mit dieser milderen Maßnahme einverstanden gewesen. Das verkennt die | |
Machtverhältnisse zwischen einem Gericht und einem Sozialarbeiter. | |
Die Mutter soll durch ihr Verhalten keinen Anlass zum Misstrauen gegeben | |
haben. | |
Ja, aber die Maßnahme, die das Gericht angeordnet hat, ist ja völlig | |
ungeeignet. Wer soll denn kontrollieren, dass sich der Mann dem Kind nicht | |
nähert? Außerdem soll eine Maßnahme laut Gesetz eine Unterstützung | |
darstellen, die die Situation in der Familie verbessert. Das Kontaktverbot | |
verbessert nichts, und es ist nicht überprüfbar. | |
Offenbar ist der Junge in Staufen bei der Entscheidung des Familiengerichts | |
nicht angehört worden. | |
Das ist bei der geltenden Gesetzeslage leider nicht zwingend. | |
Es gab ja nicht einmal einen Verfahrensbeistand für den Jungen während des | |
Verfahrens. | |
Ja, der wurde nicht für nötig befunden. Die Richter haben gesagt, das sei | |
nicht notwendig gewesen, da ein Interessenkonflikt zwischen der Mutter und | |
dem Kind nicht erkennbar gewesen sei. Aber um die Interessen des Kindes | |
festzustellen, muss man das Kind ja zumindest befragen. Der Junge ist | |
immerhin neun Jahre alt, er kann sprechen und wird auch schon schreiben | |
können. | |
Das Gericht sagt, man hätte mit Rücksicht auf das Kind auf eine Befragung | |
verzichtet. | |
Um das Kind zu schonen, sollte die Befragung natürlich von einer | |
Kinderpsychologin geführt werden. | |
Man hat den Eindruck, das Gericht konnte sich einfach nicht vorstellen, | |
dass eine Mutter organisierten Missbrauch ihres leiblichen Kindes | |
unterstützt. Ist das denn tatsächlich so unvorstellbar? | |
Dass eine Mutter hilft, ihren leiblichen Sohn Freiern im Netz zum | |
Missbrauch anzubieten, habe ich mir bisher auch nicht vorstellen können. Es | |
kommt vor, dass Mütter vor dem Missbrauch in der Familie die Augen | |
verschließen, das ist bei Missbrauchsfällen ein gängiges Muster. Aber für | |
die Art von krimineller Energie bei einer leiblichen Mutter hat mir auch | |
nach 25 Jahren, die ich mich mit solchen Fällen beschäftige, bisher die | |
Fantasie gefehlt. | |
Brauchen Familiengerichte mehr soziale Kompetenz, um solche Fälle adäquat | |
zu beurteilen, wie es die Bundesfamilienministerin jetzt gefordert hat? | |
Es wäre schon gut, wenn Familienrichter neben ihrem sicher hervorragenden | |
Wissen über Familien- und Verfassungsrecht mehr Wissen über psychosoziale | |
Zusammenhänge hätten. Das ist ja nicht gerade das, was sie im Studium | |
lernen. | |
Der Fall in Staufen wirft zum zweiten Mal ein schlechtes Licht auf das | |
Kreis-Jugendamt Breisgau-Hochschwarzwald. Bei einem Fall von 2014, bei dem | |
ein Junge ums Leben kam, wurde sogar ein Mitarbeiter wegen fahrlässiger | |
Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt. Sind die Jugendämter in der | |
kommunalen Zuständigkeit gut aufgehoben? | |
Es geht ja bei Jugendhilfe darum, Netzwerke vor Ort zu bilden, zwischen | |
Polizei, Gesundheitsämtern und sozialen Trägern. Das kann man nur vor Ort. | |
Das Problem ist eher der kommunale Finanzausgleich in ganz Deutschland. Die | |
Städte mit der höchsten Kinderarmut haben die geringste Wirtschaftskraft | |
und damit die wenigsten Steuereinnahmen. Da kann im sozialen Bereich nur | |
das Nötigste gemacht werden. Das gilt jetzt allerdings nicht für diese | |
Region. Dort kann man sicher nicht davon reden, dass es am Geld gescheitert | |
ist. | |
Insgesamt beruft sich das Gericht mit seiner Entscheidung auf die | |
Verfassung, die den Eltern den Vorrang vor staatlichen Maßnahmen einräumt. | |
Deshalb fordern wir seit 25 Jahren, dass die Kinderrechte, wie sie in der | |
UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Charta formuliert sind, | |
Verfassungsrang erhalten. Bisher ist es so, dass unser Grundgesetz dem | |
Elternrecht einen hohen Rang einräumt und die Kinder nur als Objekte | |
erkennt. | |
Wäre das nicht nur Kosmetik? Was würde sich denn für Kinder konkret | |
verbessern, wenn der Verfassungsrang für Kinderrechte käme? | |
Kinder müssten dann insgesamt an gesellschaftlichen Entscheidungen | |
beteiligt werden. Vor allem aber hätten sie ein Recht darauf, an | |
Entscheidungen, die sie ganz individuell betreffen, entsprechend ihrem | |
Alter, beteiligt zu werden. Wir reden jetzt über einen extremen Fall, aber | |
es werden tagtäglich Entscheidungen getroffen, bei denen die Interessen des | |
Kindes nicht ausreichend berücksichtigt werden. Es werden täglich Kinder | |
aus Familien genommen. Wenn sie klein sind, kommen sie in eine | |
Pflegefamilie, dann werden die Kinder wieder zurück in ihre leibliche | |
Familie gegeben, weil sich die Familien angeblich gefangen haben. Das geht | |
dann zwei-, dreimal hin und her, jedes Mal in einer anderen Pflegefamilie. | |
Irgendwann müssen sie dann in ein Kinderheim. Am Schluss landen viele | |
dieser Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ohne dass irgendwann | |
gefragt wurde, was sie eigentlich wollen. Dieses Pingpong-Spiel muss | |
endlich aufhören. | |
Was bedeutet denn konkret die Beteiligung der Kinder an einer solchen | |
Entscheidung? | |
Ein Beispiel: ein Kind von einem Jahr, das man einer Pflegefamilie gibt, | |
weil es von der Mutter misshandelt wurde. Wenn man es dann der Mutter | |
wieder zurückgeben will und dieses Kind fängt an zu weinen und will nicht, | |
dann hat sich das Kind doch geäußert. Das muss zumindest zur Kenntnis | |
genommen und dokumentiert werden, und man muss das in eine Entscheidung mit | |
einbeziehen. | |
Eine Grundgesetzänderung mit Kinderrechten steht ja in den | |
Sondierungspapieren der Großen Koalition. | |
Leider will die Union nur ein abstraktes Staatsziel. Das hätte kaum | |
rechtliche Folgen. Ein Staatsziel haben wir auch beim Tierschutz. Das ist | |
auch weit weniger, als die Kinderrechtskonvention und die EU-Charta | |
verlangt. Beide Dokumente geben den Kindern konkrete Rechte und machen den | |
Vorrang des Kindeswohls in allen Belangen geltend. | |
Wie begründet die CDU ihren Widerstand? | |
Sie fürchtet, dass die Kinderrechte Konflikte zwischen Eltern und Kindern | |
schüren würden. Außer in extremen Fällen, über die wir hier reden, gibt es | |
aber eigentlich keine juristischen Interessenskonflikte zwischen Eltern und | |
Kindern. Die Rechte auf Bildung und Spielen und soziale Sicherheit stärken | |
ja in Wahrheit die Rechte von Eltern in der Gesellschaft. Die Diskussion | |
verläuft ähnlich wie damals beim Recht auf gewaltfreie Erziehung. Auch da | |
hieß es, es bringt nichts. Doch heute belegen Zahlen, wie stark die Gewalt | |
in Familien und damit in der Gesellschaft abgenommen hat. | |
Könnte der Fall in Freiburg die Diskussion über Kinderrechte noch einmal in | |
Bewegung bringen? | |
Der Fall macht deutlich, dass das Kindeswohl im rechtsstaatlichen Verfahren | |
bisher keinen Vorrang hat, dass die Beteiligung des Kindes bei der Frage, | |
ob es zurück in eine solche Familie muss, nicht zwingend ist. Das würde | |
sich mit dem Verfassungsrang sicher ändern und hätte womöglich Schlimmes | |
verhindert. | |
30 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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