# taz.de -- Psychologin über sexuellen Missbrauch: „Die Familie ist unantast… | |
> Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch wird oft mit Überforderung | |
> reagiert, sagt die Psychologin Katrin Schwedes. Auch Lehrer müssten | |
> besser geschult werden. | |
Bild: Um Missbrauch aufzudecken, braucht es offene Ohren für Kinder und Unersc… | |
taz: Frau Schwedes, die Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen | |
Kindesmissbrauchs speziell in der Familie [1][hatte gestern ihr erstes | |
Hearing]. Was kann diese Kommission bringen? | |
Katrin Schwedes: Die sexualisierte Gewalt im familiären Kontext ist immer | |
die, die am schnellsten in der Schublade verschwindet. Wenn es der „Fremde“ | |
in der Schule oder der Umkleide war, dann können wir das besser verdauen, | |
als wenn Missbrauch in der Familie stattfindet. Das ist das Besondere an | |
dieser Kommission, in anderen Ländern wird die Familie in solchen | |
Aufarbeitungskommissionen immer ausgespart. | |
Was ist das schwer Verdaubare an dem Thema? | |
In der Öffentlichkeit ist ein fremder Täter besser vermittelbar als ein | |
„normaler Familienvater“. Familie ist in unserer Gesellschaft unantastbar, | |
sie hat einen sehr hohen Stellenwert. Wenn die sexualisierte Gewalt in der | |
Familie thematisiert wird, dann zerbricht die Familie in der Regel. Man | |
macht sie vermeintlich „kaputt“. Deshalb kommen die Fälle auch so selten | |
zur Sprache, die Schwelle ist extrem hoch. Das Umfeld, Verwandte, | |
Lehrerinnen, sie schrecken davor zurück, in diese Familie einzugreifen. | |
Auch die Betroffenen haben es deshalb sehr schwer, etwas zu sagen. | |
Eine Art Schweigegelübde, auch für die Betroffenen? | |
Ja. Was Kinder und Jugendliche uns von Anfang an in der Beratung | |
vermitteln: Die Gewalt soll aufhören, aber die Familie soll bleiben. Auch | |
später plagen sie oft Schuldgefühle. Das ist ein Problem, das man nicht | |
auflösen kann. Auch wenn man immer wieder vermittelt: Du bist nicht schuld. | |
Schuld ist der Täter. Das Gefühl bleibt im Raum. Und das halten viele | |
Betroffene und Unterstützer*innen nicht aus. | |
Und sagen lieber nichts. | |
Ja, vor allem zeigen sie nicht an. Gerade wenn es sich noch um Kinder oder | |
Jugendliche handelt, wenn die Taten also noch nicht so lange her sind: für | |
diese Kinder schafft eine Anzeige eine zusätzliche Belastung. Erst mit viel | |
Abstand zur Familie, also wenn sie herausgenommen wurden oder wenn viel | |
Zeit vergangen ist, dann entwickeln sie eher den Wunsch, anzuzeigen. | |
Deshalb sind lange Verjährungsfristen so wichtig. | |
Wie gelangen die Kinder und Jugendlichen zu Ihnen in die Beratung? | |
Sie erzählen zum Beispiel einem Freund oder einer Freundin etwas. Wenn man | |
Glück hat, redet die mit ihrer Mutter oder der Lehrerin, und die können | |
dann mit einer Beratung darüber sprechen, was nun geschehen könnte. | |
Das heißt, LehrerInnen und ErzieherInnen sind unter Umständen | |
lebenswichtig? | |
Ja. Und deshalb hoffe ich, dass das Ergebnis dieser Kommissionsarbeit sein | |
wird, dass jegliches pädagogische Personal geschult wird. | |
Und die sollen dann Missbrauch aufdecken? Das ist aber anspruchsvoll. | |
Nein. Sie sollen gerade nicht Kriminologen spielen. Sie sollen sensibel | |
sein und dann Kontakt mit den Fachleuten herstellen. Wir brauchen offene | |
Ohren, die mit einer gewissen Unerschrockenheit das Thema wie andere auch | |
behandeln: Bei dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch reagieren viele | |
Menschen mit Angst und Überforderung. Ich hoffe, dass die Arbeit der | |
Kommission dazu führt, dass diese große Angst, mit dem Thema nicht umgehen | |
zu können, kleiner wird. | |
Woran merkt denn eine Lehrkraft, dass etwas mit einem Kind nicht in Ordnung | |
ist? | |
Es gibt leider keine Checkliste, die man abhaken könnte. Man muss einfach | |
gucken, wie das Kind wirkt, ob es sich verändert. Sich zurückzieht oder | |
etwas reinszeniert, es kann ganz unterschiedlich sein. Aber wenn man dafür | |
sensibel geworden ist, und das muss in Fortbildungen vermittelt werden, die | |
es leider immer noch nicht flächendeckend gibt, dann kann man sich mit | |
anderen LehrerInnen austauschen und unaufgeregt über das Thema reden. Und | |
dann spricht man mit einer Beratungsstelle und lässt sich begleiten. Dann | |
verliert sich diese Panik, entweder ein Kind in einer unerträglichen Lage | |
alleinzulassen oder aber eben eine ungeheure Anschuldigung gegen ein | |
Familienmitglied zu erheben. Das muss man eine Weile aushalten. Es ist | |
wichtiger zu sehen, wie es dem Kind geht, als sich auf die Tat zu | |
konzentrieren. Die Betroffenen wissen ganz gut, was sie sich wünschen. Man | |
kann sich von ihnen leiten lassen. | |
Was müsste also die Bildungspolitik nun tun? | |
Man müsste die Präventionskonzepte, die es bereits gibt, in allen Kitas und | |
Schulen einführen. Missbrauchs- und Gewaltprävention muss wie | |
HIV-Prävention Teil des Curriculums sein. Die Erfahrung zeigt, dass | |
Lehrkräfte, die sich so mit dem Thema auseinandergesetzt haben, dann auch | |
nicht mehr so panisch sind, wenn ein Verdacht aufkommt. Das müssen wir | |
radikal ausweiten. Und es muss Ansprechpartner geben. Jede weiterführende | |
Schule hat einen Drogen- oder Gewaltbeauftragten. Auch für sexualisierte | |
Gewalt muss es jemanden geben. Es ist verblüffend, dass auch nach all den | |
Skandalen die Fachberatungen nicht ausreichend unterstützt werden. Da wären | |
wir wieder beim Tabuthema Gewalt in der Familie. Das ist wie ein Stigma. | |
Damit gewinnt man eben keine Wahlen. | |
1 Feb 2017 | |
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## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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