| # taz.de -- Roman „Tag XYZ“ von Lorenz Just: Der Kampf ist schön | |
| > Gemeinschaften und Geschlechter geraten ins Fließen: Der neue Roman von | |
| > Lorenz Just „Tag XYZ“ beginnt mit der Besetzung der Berliner Volksbühne. | |
| Bild: Schriftsteller Lorenz Just | |
| Ein Theater wird besetzt, Aktivist*innen im Foyer, auf der Bühne, sie | |
| kommen und gehen, sie sitzen und diskutieren, tags und auch nachts. So | |
| beginnt dieses Buch, in diese Situation der Besetzung gerät sein | |
| Ich-Erzähler hinein. Die Sache erinnert, sie kann gar nicht anders, an das | |
| Jahr 2017. Damals [1][besetzte eine Kunsttruppe namens „Staub zu Glitzer“ | |
| die von dem angefeindeten Neuintendanten Chris Dercon übernommene | |
| Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.] | |
| Die Beschreibungen in dem Roman „Tag XYZ“ von Lorenz Just, des Theaters, | |
| seines Inneren, seines Äußeren und auch des Platzes davor, ähneln der | |
| Wirklichkeit einerseits geradezu unverkennbar. Andererseits steht das | |
| namenlose Romantheater in der namenlosen Stadt anders als damals die | |
| Volksbühne aber leer. Die Kunstaktion im Buch hat keinen klar benennbaren | |
| Gegner, sie hat kein eindeutiges Ziel, sie ist weder als Kunst noch als | |
| Aktion scharf umrissen. | |
| Kein Wunder bei diesem Erzähler, der Jakob heißt, oder auch Jake oder Jagg, | |
| Namen sind nicht Schall und Rauch, aber etwas, das sich jederzeit verändern | |
| kann oder ins Fließen geraten; wie Wünsche, Hoffnungen, Gemeinschaften oder | |
| Geschlechter. | |
| Da sind Leute, die mal Ferdinand heißen, mal Pferdi, da ist Delling, er | |
| macht im Theater die Küche, da ist Bernd in seiner Berndhaftigkeit, da ist, | |
| nein, sind Ora, die nämlich nur im Plural adressiert werden, da ist Spuki | |
| und bei einer Tour ins Hinterland eines namenlos bleibenden fernen Landes | |
| trifft Jakob (ein wenig wie in einem [2][Bolaño-Roman]) auf eine Brecht- | |
| und Müller- und Arendt-lesende Truppe, ein Kollektiv anderer Art, Abie | |
| und Medad und Schebu und Isal und Erid, die ihn zu seiner Meinung zu | |
| Nietzsches These vom Tod Gottes befragt. | |
| ## Sortierungen widerstehen | |
| Das passiert in einem der zwei langen Einschübe in dem Roman, einer | |
| berichtet von einer Kreuzfahrt mit Tante, es findet auch noch ein Dorffest | |
| und eine englischsprachige Deutschlandbeschimpfung, die sich gewaschen hat, | |
| darin statt; der andere, spätere Einschub erzählt von der Verteilung von | |
| Briefen an Hinterbliebene genau dieser Tante. Es ging ihr schon auf der | |
| Kreuzfahrt nicht gut, nun ist sie tot. | |
| Das sind Rückblenden aus der Theater-Besetzungs-Haupthandlung, könnte man | |
| sagen, wäre die damit verbundene klare Unterscheidung von Gegenwart und | |
| Vergangenheit nicht schon eine etwas zu grobe logische Sortierung bei einem | |
| Buch, das Sortierungen aller Art, wenn auch sanft, widersteht – | |
| insbesondere auch der in Wirkliches und Geträumtes. Es ist alles irgendwie | |
| Halbzeug: Realität, mit Traumelementen versetzt. Ein Traum, aus dem | |
| kapitalistische Wirklichkeit scharfkantig ragt. | |
| Man muss sich nicht wundern, schon beim Eingang ins Buch, denn da steht ein | |
| Motto von Robert Walser, das hier zu zitieren sicher nicht schadet. Es geht | |
| so: „Ich irrte zu Zeiten allerdings im Nebel und in tausenderlei | |
| Schwankungen und Verlegenheiten umher, und oft fühlte ich mich elendiglich | |
| verlassen. Aber ich denke, daß es schön ist, zu kämpfen.“ | |
| Fast ist das weniger ein Motto als das, was man beim Auftrag an eine | |
| generative künstliche Intelligenz einen Prompt nennen könnte, nur dass hier | |
| die ästhetische Formintelligenz und Fantasietätigkeit [3][des Autors Lorenz | |
| Just] den Auftrag ausgeführt hat, das, was in diesem Motto verdichtet ist, | |
| zu einem Roman zu gestalten. | |
| ## Verlässlich unberechenbar | |
| Eine scheinbar kleine Eigenart des Buchs, das so verlässlich unberechenbar | |
| ist, dass man sich seinen Wendungen nur zu gern überlässt: Es macht, anders | |
| als von den Interpunktionsregeln vorgesehen, nach einem Punkt nicht groß | |
| weiter. Keiner der Romane, die – wie etwa Mathias Énards „Zone“ – kein… | |
| Punkt machen und also keine Schwellen für das Innehalten und vielleicht | |
| Umwenden errichten. In „Der Tag XYZ“ sind diese Schwellen nur abgesenkt, | |
| die Füße schleifen daran, das Erzählen verschleift den Unterschied zwischen | |
| Träumen und Wachen, zwischen der einen Szene und der nächsten, zwischen | |
| Aktivismus und Passivität. | |
| Es versteht sich von selbst, dass die Besetzungskunstaktion das Ziel, das | |
| sie nicht wirklich benennen kann, auch nicht erreicht. Die Diskussionen | |
| führen zu nichts, aber die Tatsache, dass sie überhaupt geführt werden, ist | |
| schon mal was. Der Kampf in seiner Schönheit geht weiter. Der Erzähler | |
| macht sich auf den Weg, zum Tag X. Oder Y. Oder Z. | |
| 25 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Besetzung-der-Volksbuehne-beendet/!5448305 | |
| [2] /Roberto-Bolao-Schau-in-Barcelona/!5068203 | |
| [3] /Ein-Spaziergang-mit-Interview/!5735807 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
| ## TAGS | |
| Roman | |
| Buch | |
| Berliner Volksbühne | |
| Buchvorstellung | |
| deutsche Literatur | |
| Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
| Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Der Roman „Prana Extrem“ von Joshua Groß: Avantgarde, mindestens | |
| Der Skisprung-Roman „Prana Extrem“ von Joshua Groß verschaltet großartig | |
| Witz und Empfindsamkeit, echtes Anliegen und schräge Verschiebung. | |
| Coming-of-Age in Niedersachsen: Ins Dunkle kippen | |
| Lisa Krusche lässt magischen Realismus durchs ländliche Niedersachsen | |
| wehen. Ihr Roman erzählt von Hippies und Jungsein: „Unsere anarchistischen | |
| Herzen“. | |
| Leif Randts Roman „Allegro Pastell“: Gedanken im Wellnessbereich | |
| Mit seinem neuen Buch nähert sich Randt den Lebenslügen der jungen | |
| Mittelklasse. Und hat damit Chancen auf den Preis der Leipziger Buchmesse. |