# taz.de -- Coming-of-Age in Niedersachsen: Ins Dunkle kippen | |
> Lisa Krusche lässt magischen Realismus durchs ländliche Niedersachsen | |
> wehen. Ihr Roman erzählt von Hippies und Jungsein: „Unsere | |
> anarchistischen Herzen“. | |
Bild: Hat kein Interesse daran, Realitäten eins zu eins abzubilden: Lisa Krusc… | |
In den Ruinen der Welt schwimmt Judith durch giftiges Wasser und träumt | |
davon, mit einem Meerestier zu verschmelzen. Ob sie ein Mensch oder ein | |
Avatar ist, wird die Leserin nicht erfahren; ebenso wenig, was nach der | |
Apokalypse kommt, die in Lisa Krusches Text „Für bestimmte Welten kämpfen | |
und gegen andere“ entworfen wird. Die Science-Fiction-Dystopie brachte | |
Krusche beim [1][Bachmannpreis 2020] viel Lob ein. | |
Ihr nun erschienener Debütroman „Unsere anarchistischen Herzen“ spielt | |
nicht nach der Endzeit, sondern im Niedersachsen der Gegenwart, aber | |
dennoch spielen ihre Heldinnen auch dort mit Gedanken an entgrenzte, | |
modifizierte Körper. „ich will mich abtrennen von der Welt“, denkt die | |
junge Gwen, die schon als Kind belästigt, angefasst und gedemütigt wurde – | |
bevor sie dann an Karamell denkt: Wie es wohl wäre, in der klebrigen Masse | |
zu baden, damit man selbst zur Fliegenfalle wird, „süß am ganzen Körper, | |
und alle Fliegen würden Karies kriegen. Oder sterben“? | |
Krusche wurde 1990 in Hildesheim geboren, lebt in Braunschweig und sagt, | |
sie sei nicht interessiert daran, Realitäten eins zu eins abzubilden. Umso | |
verwunderlicher ist es, dass „Unsere anarchistischen Herzen“ zunächst nach | |
klassischer Coming-of-Age-Geschichte aussieht. Den Roman erzählt Krusche | |
abwechselnd aus Sicht von Charles und Gwen, zwei jungen Frauen aus | |
dysfunktionalen Elternhäusern, die einander Freundinnen und Stütze werden. | |
Wobei die Versuchsanordnung zuerst mal ziemlich bekannt wirkt. | |
Charlis Geschichte nämlich beginnt damit, dass ihr strauchelnder Vater | |
nackt durch Berlin-Charlottenburg rennt. Kurz darauf beschließt die | |
Familie, von der vermeintlich toxischen Großstadt in eine Art Kommune nahe | |
Hildesheim zu ziehen. Dort gibt es verstrahltes Achtsamkeitsgerede, drei | |
Mitbewohner:innen in einer unmöglichen Dreiecksbeziehung und veganes | |
Rührei, was nicht weiter überraschend wäre, wenn diese | |
Ha-Ha-Hippie-Klischees nicht so brutal ins Dunkle kippen würden. | |
## Drogen und psychische Probleme | |
Charlis Künstlereltern sind nämlich nicht etwa liebenswerte Schussel, denen | |
manchmal die Brille bei der Unterscheidung von Nonkonformismus und | |
Verantwortungslosigkeit verrutscht, sondern bürden ihre Probleme – mit | |
Drogen, psychischen Problemen, vor allem ihr Straucheln mit der eigenen | |
Elternschaft – kompromisslos ihren Kindern auf. „Ich dachte, du wärst | |
untergegangen, ich war so erleichtert“, sagt Charlis Vater, als er ihr | |
davon erzählt, wie sie als Kind fast ertrunken wäre. | |
Auch Gwens Familie glaubt man zunächst aus tausend Geschichten zu kennen: | |
Es sind kalte Oberflächenmenschen, die in einem Designer-Glaskubus leben | |
und einander verachten. Wenn die Freunde ihres Vaters Gwen befummeln, guckt | |
er weg. | |
Vor allem ihre Kapitel sind oft unterbrochen von Sequenzen, die man | |
vielleicht nicht als streams, sondern eher als bits of consciousness | |
bezeichnen könnte – Gedankenfetzen, kleine Einschübe, die oft | |
sentimentaler, weicher und irgendwie weiser als Gwens Erzählungen klingen. | |
Als würde da eine Stimme sprechen, die sich die früh nihilistisch und tough | |
gewordene Jugendliche schon lange abtrainiert hat. | |
Krusche lässt die beiden gut den halben Roman lang nebeneinander her leben, | |
bis sie schließlich in einem Kiosk aufeinandertreffen, jede eine Epiphanie | |
für das Gegenüber: das „High-End-Pferdemädchen“ Gwen, „Labels dezent, … | |
all over her body“, und Charli auf ihrem Hauspony Gerd, eine | |
Pippi-Langstrumpf-haft starke, surreale Erscheinung. | |
## Magischer Realismus | |
Überhaupt weht eine Art magischer Realismus durchs ländliche Niedersachsen. | |
Spricht Charli mit den Bäumen, kriegt sie eine Antwort; verbrennt ihr Vater | |
im Wahn seine Kunstwerke, kommt eine Riesin herbei und löscht das Feuer. | |
Und wenn die Wut über Gwen hereinbricht, wird die Welt um sie herum zum | |
roten, reißenden Mahlstrom. | |
Dann verabredet sie sich mit Fremden auf „Rumblr“, einem Portal zum | |
Arrangieren von lockeren Prügel-Dates: Ein Gag, der zugleich Anspielung auf | |
Dating-Apps sowie das Portal Tumblr und ein kleines „Fight | |
Club“-Dystopie-Update ist. | |
Insignien von Zeitgeistigkeit, Jugend- und Internetsprache (oder das, was | |
nicht-mehr-ganz-jugendliche Autor:innen und Kritiker:innen dafür | |
halten) hatten im vergangenen Jahr auch viele an Leif Randts Roman „Allegro | |
Pastell“ fasziniert. | |
## Fragmentarisch und tastend | |
Aber anders als bei dessen Millennial-Belegschaft ist bei Krusches | |
jugendlichen Heldinnen nicht jeder Nachrichtenverlauf ostentativ smart, | |
nicht jedes Emoji überfrachtet mit Bedeutung. Chats und Anglizismen sind, | |
was sie halt sind bei Teens, und fügen sich ein in Krusches Sprache, die | |
oft fragmentarisch und tastend bleibt, dabei aber unverbrüchlich stark | |
klingt – um schließlich wieder zu überlebensgroßer, teenage-ängstlicher | |
Poesie aufzuwallen. | |
Alles gleitet ineinander über: Unglaubliches und Alltag, Opulenz und | |
Reduktion. Und alles hat seinen Zweck, um sehr zeitgemäß und bewegend von | |
den Schrecken, aber auch den Möglichkeiten des Jugendlich- und des | |
Frauseins zu erzählen. Egal, ob da jemand im postapokalyptischen | |
Niemandsland festsitzt. Oder in Hildesheim. | |
27 May 2021 | |
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[1] /Bachmann-Preis-fuer-Helga-Schubert/!5690960 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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