# taz.de -- Roman über Punks der 90er: Nochämo uff die Fress? | |
> Tijan Silas „Krach“ erzählt vom Erwachsenwerden eines jungen Manns, der | |
> mit seiner pfälzischen Punkband 1998 durch den Osten Deutschlands tourt. | |
Bild: 1995 Bonn. Punks beim Tischfußball in einer Kneipe | |
Ein Mann, der über bescheidene intellektuelle Kapazitäten verfügt, kann | |
problemlos Regisseur, Redakteur, Professor oder Romancier werden, wenn er | |
nur „aus gutem Hause“ kommt. Eine Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen | |
kann ein noch so helles Licht sein, zuerst wird sie sich selbst überzeugen | |
müssen, dass sie erfolgreich ein Studium abschließen kann und wird. Auch | |
wenn ihr das weder die Eltern noch deren Freunde vorgemacht haben. | |
So verhält es sich mit Ursel in Tijan Silas neuem Roman „Krach“. Sie ist | |
die Klügste in ihrer Klasse. Aber nach dem Abitur wird sie Friseurin und | |
Leaderin der Punkband Pur Jus, wo sie Gitarre spielt. Ihr Bruder Beppo | |
sitzt bei Pur Jus am Schlagzeug. Bassist der Band ist der stille Pirmin. | |
Wenn die anderen ihn in die Russenecke stellen, um ihn zu ärgern, erklärt | |
er eins ums andere Mal, sein Clan lasse sich bis zu Bad Dürkheimer | |
Mennoniten aus dem 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Fünfte im Bunde ist | |
Gansi, und wir dürfen vermuten, dass er die Rhythmusgitarre spielt, denn | |
Ursel ist ja der Chef, oder auch: „der Band-Hitler“. | |
Gansi erzählt uns in „Krach“ seine Geschichte. Es ist die Geschichte eines | |
jungen Manns, der sich zwar nicht findet, wer kann das schon, aber am Ende | |
des Romans weniger fremd ist als am Anfang. | |
## Dritter Roman | |
„Krach“ ist Tijan Silas dritter Roman, noch besser, noch [1][unterhaltsamer | |
als „Tierchen Unlimited“] und [2][„Die Fahne der Wünsche“]. Er spielt … | |
Deutschland des Jahres 1998, in einer [3][fiktiven pfälzischen Kleinstadt] | |
namens Calvusberg, deren Straßen in Wirklichkeit in Landau, Kaiserslautern | |
und Pirmasens liegen, wie Tijan Sila am Telefon erzählt. | |
Er lebt und arbeitet in Kaiserslautern als Berufsschullehrer, er hat noch | |
heute mit jungen Männern zu tun, wie er selbst einmal einer gewesen ist. In | |
den späten Neunzigern hat er wie sein Erzähler in einer Punkband gespielt, | |
sie hieß Atlas Lanze. Inzwischen hat er eine neue Band namens Korrekte | |
Drinks und sieht immer noch aus wie ein Punk. | |
Damit ist nicht das Klischee von Lederjacke und Iro gemeint, sondern ein | |
körperbetonter, schnittiger Style mit einer Kurzhaarfrisur, über den Ohren | |
ausrasiert. Jacken trägt Tijan Sila stets bis unters Kinn zugeknöpft. Auch | |
für unsere Videoschalte via Smartphone. | |
Dass ein Kleinstadtpunk drei Namen trägt, dürfte nicht außergewöhnlich | |
sein. Der Ich-Erzähler von „Krach“ heißt mit Vornamen Sabahudin. So steht… | |
in seinem Ausweis, aber niemand nennt ihn so. Gansi wird er in der Schule | |
und von seinen Freunden gerufen. Die Familie nennt ihn Budo, mit langem u | |
und kurzem o. | |
## Die Hadžijalijagićs | |
Gansis Nachname, Hadžijalijagić, ist ein Witz seines Erfinders, der | |
anscheinend länger darüber gegrübelt hat, wie er möglichst viele Silben, | |
den stimmhaften postalveolaren Frikativ (so heißt das wirklich) – ž – und | |
die stimmlose alveolopalatale Affrikate – ć – in einem übertrieben | |
jugoslawisch klingenden Namen unterbringen kann, der deutsche Zungen zum | |
Stolpern bringt – abgesehen von derjenigen Mareikes, der Frau seines großen | |
Bruders, die ihn akzentfrei aussprechen kann, weil er nun ihr eigener ist. | |
Mit ein bissl Verstand („bissl“ ist das Wort, das diesen Roman sprachlich | |
wie kein anderes auf den Punkt bringt, dazu später mehr) kann man aber aus | |
diesem Namen schon den Hadschi und einen Ali herauslesen. Die | |
Hadžijalijagićs sind eine bosnische Familie. | |
Aber der Balkan wäre nicht der Balkan, wenn die Verhältnisse so einfach | |
wären. Es finden sich auch Kroaten und Serben in der Verwandtschaft, und | |
wenn Gansi wegen des Genozids der Zorn packt, wünscht er sich, er „könnte | |
ihr Blut aus meinem filtern“. Am nächsten Tag schämt er sich für diesen | |
Wunsch. Mit nationaler Identität hat er es eh nicht: „Mein Volk sind die | |
Coolen!“ | |
## Mustermigrant | |
Gansi ist Teenager. Er tut sich schwer, die Liebe zu seinen beiden kleinen | |
Zwillingsschwestern in einer anderen Form von Zärtlichkeit zu bekunden, als | |
die beiden „Wanzen“ zu nennen. Gansi ist in Deutschland geboren, anders als | |
sein Autor (und anders als Gansis großer Bruder, ein Mustermigrant mit | |
abgeschlossenem Medizinstudium). | |
Darauf weist Tijan Sila, der 1981 in Sarajevo zur Welt und mit 13 nach | |
Deutschland kam, im Gespräch ausdrücklich hin. Es ist eines der Details, | |
mit denen er seine Figur von der eigenen Biografie distanziert. Freunde, | |
erzählt er, hätten seine eigenen Charakterzüge deutlicher in Ursel | |
entdeckt. | |
Atlas Lanze, Tijan Silas Band, hatten Auftritte in Jugendzentren in West | |
und Ost. Jenseits der Zonengrenze hieß das hin und wieder auch, eine Nacht | |
in einem verbarrikadierten besetzten Haus verbringen zu müssen, weil auf | |
der Straße eine Horde von Glatzen mit Baseballschlägern darauf aus war, ein | |
paar Zecken zu klatschen. | |
Tijan Sila hat diese Erfahrungen seinem Gansi mitgegeben, der mit Pur Jus | |
in Gera, Heidenau und Weißwasser spielt und sich an einer Stelle des Romans | |
wundert, [4][warum die Polizei nicht kommt.] | |
## Geschichte eines failed states | |
In dieser unbeantworteten Frage wird die Geschichte Ostdeutschlands als | |
diejenige eines failed states erzählt, in der die Exekutive launische | |
Entscheidungen darüber trifft, wann es die freiheitlich-demokratische | |
Grundordnung zu verteidigen gilt – und wann ihr Recht und Ordnung egal | |
sind. Ein Kommunistenpunk erklärt den Pfälzern, „ein besetztes Haus in | |
Sachsen könne nur überleben, wenn es so abgelegen sei, dass ein Überfall | |
den Faschos zu umständlich vorkomme“. | |
Gansi nimmt vor keiner Schlägerei Reißaus, oft bleibt ihm aber auch gar | |
nichts anderes übrig, als sich zu stellen. Im Roman kommt es, wie einst in | |
der deutschen Provinz, alle Naslang zu Schlägereien, oft mit Faschos und | |
Hools, und in Folge zu gespaltenen Lippen und anderen Blessuren. Einmal hat | |
Gansi sogar Angst, er könnte jemand getötet haben. | |
Tijan Sila versteht es, diese Szenen so zu gestalten, dass sie nicht | |
pornografisch wirken, sondern wie Slapstick, ohne ihnen den Ernst zu | |
nehmen. Gansi fürchtet Gewalt, aber er genießt sie auch, weil sie | |
rauschhaft ist und er im Moment des Kampfs bei sich. | |
Pur Jus spielen zwar in linken Jugendzentren und antirassistisch sind sie | |
auch, was aber nicht heißt, dass sie mit linken Studenten keine Probleme | |
hätten. Ursels älterer Bruder Uwe ist ein Nazihool, von dem sich Ursel aber | |
nicht abwendet, weil sie weiß, dass er das Trauma des frühen Verlusts der | |
Mutter nicht überwinden kann. | |
## Zecken verabscheuen Dialekte | |
Einem Punk, der schlecht über Ursels Bruder redet, um sie zu demütigen, | |
droht Gansi: „Wie siehts aus? Will einer von euch Tschukkekahlern heit | |
Ohwed nochämo uff die Fress?“ Und verrät dem Leser: „Ich wusste, dass | |
Zecken Dialekte verabscheuten – Dialekte zeugten von Heimatbewusstsein, was | |
Linke jedoch nur Menschen aus Berlin und Hamburg gestatteten.“ | |
Über den Hinweis eines Studenten, „violent däncing“ sei „Ausdruck | |
androzentrischer Körperpolitik“, können Pur Jus nur lachen. Am Telefon sage | |
ich Tijan Sila, dass ich auch oft gelacht habe beim Lesen. Wenn etwa Gansi | |
wegdöst und das so erklärt: „Sex und Kuchen halt.“ Oder wenn Österreicher | |
als „Gartenzwerge des Tätervolks“ bezeichnet werden. Tijans knappe Antwort: | |
„Klar, du bist ja auch kein Österreicher.“ | |
Gansi und seine Freunde reden weder politisch korrekt, noch sprechen sie | |
reines Hochdeutsch. Tijan Sila hat für diese Gang eine Sprache erfunden, | |
die in ihrer Mischung aus Slang und Dialekt hochliterarisch ist, in der so | |
wahrhaftige Sätze wie dieser fallen können: „Der Scheiß quälte mich | |
dermaßen, dass ich sogar mit dem Wichsen aufgehört hatte.“ Selbst in dieser | |
hypervirilen Pose zeigt uns Sila seinen Protagonisten als sensiblen jungen | |
Mann, der seine Gefühle nicht verdrängt, sondern sie sich eingesteht. | |
Leute, die ihnen nicht passen, werden von den Calvusberger Punks als | |
Tschukkekahler beschimpft, und wer ein paar Wörtern des Jenischen mächtig | |
ist, ahnt, dass das Hundefresser bedeutet. Zwar erklärt der Autor die | |
Bedeutung des Worts, aber nicht seine Herkunft. Franzosen heißen bei den | |
Calvusbergern Wackes, Sinti aber „Zigeuner“. | |
Letzteres gewöhnt sich Gansi schnell ab, weil er sich in Katja Hurlebaus | |
verliebt, Tochter eines Franzosen und einer Sinteza. Er versteht sofort, | |
dass Schluss mit lustig ist, wenn Menschen sich durch Sprache verletzt | |
fühlen. | |
## Woke Mischpoke | |
Trotz aller sprachlicher Drastik sollte auch die woke Mischpoke diesen | |
Roman goutieren können. Seine Sensibilität unterscheidet Gansi von Leuten, | |
die er als „gewöhnlichstes Klischee deutscher Gymnasiasten“ identifiziert: | |
„Verbiesterte Wichser aus guten Elternhäusern, die gerne Schwächere | |
demütigten.“ | |
Was sagt uns „Krach“? Es gibt keine Chancengleichheit in Deutschland. Aber | |
weder Herkunft noch Klasse sind Schicksal. Punk ist für alle, die | |
unsichtbare Grenzen überwinden müssen, um dorthin zu kommen, wo sie | |
hingehören. | |
9 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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