# taz.de -- Punk-Musiker Engler über Nazi-Lehrer: „Richtig übles Volk“ | |
> Jürgen Engler gründete 1976 die Punkband Male. Heute lebt er in Austin, | |
> Texas. Ein Gespräch über Alt-Nazis als Lehrer und Black Lives Matter. | |
Bild: Jürgen Engler und Die Krupps bei einem Auftritt in Prag 2018 | |
taz: Herr Engler, Sie leben seit zwölf Jahren in Austin, Texas. Wie geht’ s | |
Ihnen da? | |
Jürgen Engler: Austin ist ungefähr so groß wie Düsseldorf, hat auch eine | |
schöne Altstadt, eine Quadratmeile voller Livecubs und Bars. Es ist eine | |
Liberalenhochburg, das San Francisco oder New York des Südens. Die | |
Austinites sagen nicht: Wir sind Texaner. Die sagen: Wir sind Austinites. | |
Deswegen bin ich hier gelandet. Ich fühl mich wohl und habe nicht mit | |
irgendwelchen Regeln zu tun. Die Regeln, die es gibt, sind sinnvoll. Etwa | |
knallharte Alkoholgesetze, das finde ich gut. | |
Bis zur Wahl war das Jahr 2020 in den USA von den | |
Black-Lives-Matter-Demonstrationen geprägt. Was war in Austin los? | |
Es gibt in Austin keine wirklichen Gettos, hier kann man des Nachts überall | |
hingehen, das würde ich in bestimmten anderen Städten nicht machen. Es ist | |
ein wunderbarer Schmelztiegel. In Austin gibt es viele interracial couples, | |
es gibt keine Abgrenzung wie anderswo: Bigger cities, bigger problems. Es | |
gibt aber auch hier einiges, das nicht in Ordnung ist, Polizisten, die über | |
die Stränge schlagen, aber nicht in dem Maße wie anderswo. Wir hatten große | |
Demonstrationen, viele Leute, die sich mit Black Lives Matter | |
solidarisieren. Diese Masse an Leuten, die eine Veränderung herbeiführen | |
will, find ich wunderbar, vor allem, weil es Leute aus allen Schichten | |
sind. Und ich denke, die werden das schaffen. | |
Hat sich der Protest auch gegen die Politik Donald Trumps gerichtet? | |
Das hat mit Trump nicht viel zu tun. Er wird sowieso gehasst von mehr als | |
60 Prozent der Bevölkerung. Der Rest vergöttert ihn, er ist quasi ihr | |
Führer, da gibt’s keinen Mittelwert. Die Bushs und Trump haben nur über das | |
uralte voting system aus dem 17. Jahrhundert gewonnen. Sie haben keine | |
Mehrheit gehabt, würden sie auch nie bekommen. Dass die Leute jetzt auf die | |
Straße gehen und sich solidarisieren gegen Polizeigewalt und gegen | |
Rassismus, spricht für Amerika. | |
1979 ist „Zensur & Zensur“ Ihrer Band Male erschienen. Eines der Stücke | |
dieses Albums heißt „Polizei“. Können Sie den Text noch auswendig? | |
Na klar. Ich muss ja, ich spiel das ja noch. | |
„Polizei, Polizei / Unbestechlich und gerecht. / Polizei, Polizei / | |
[1][Missbraucht niemals ihre Macht.] / Ich und du, wir können machen / Was | |
wir wollen. / Polizei, Polizei / Saubermann-Image und nett. / Polizei, | |
Polizei / Hilfsbereit und immer grün.“ | |
Die Nummer ist von 1977, es war eine der ersten. Sie ist entstanden wie | |
viele Songs, relativ spontan. Die Gitarre in die Hand genommen und | |
gespielt. Textlich haben wir uns meist die Bälle hin und her gespielt. Ich | |
kann mich noch gut daran erinnern, wie wir versucht haben, einen ironischen | |
Text zu schreiben. „Wir wollen keine Bullenschweine“ und Ähnliches, das | |
war [2][die spätere Generation von Punks]. Wir haben uns eher tongue in | |
cheek ironisch über die Polizei lustig gemacht. Der Text bringt es auf den | |
Punkt. Und ist immer noch gültig: die adretten Uniformen, Saubermann-Image. | |
Ich finde das erstaunlich, wenn ich heute unsere Texte höre, die waren | |
richtig gut. Vor allem, wenn man sich vorstellt, wir waren gerade einmal | |
16, 17 Jahre alt. Und: Das war Neuland. Niemand hat damals so sloganhaft | |
plakative Texte geschrieben, kurz, knapp, prägnant, ironisch, die aber auch | |
Interpretationen offen ließen. | |
Warum haben Sie angefangen, auf Deutsch zu singen? | |
Weil wir einfach besser Deutsch sprachen als Englisch! Und weil wir | |
irgendwann gemerkt haben, dass das, was wir sagen wollten, einfacher zu | |
formulieren und auf den Punkt zu bringen ist. | |
Worum ging es Ihnen? Laut sagen: Hallo, jetzt sind wir da? | |
Wir wollten alles anders machen. Wir wollten alles radikal ändern. Das | |
kannst du auf verschiedene Weise machen. Ich war Gitarrist, ich hatte keine | |
Synthies. Die unkonventionelleren Mittel kamen erst 1980 ins Spiel, als ich | |
das Rad neu erfinden wollte, mit der „Stahlwerksymphonie“ von den Krupps. | |
Das war bei Male noch nicht der Fall, da war es radikal genug, was wir zu | |
dem Zeitpunkt gemacht haben. Damals war die Szene in Deutschland noch vom | |
Hippietum geprägt, gepolt auf Pink Floyd und die anderen Dinosaurierbands | |
der Zeit. | |
Radikal war auch, dass Sie 1977, am Ende Ihres ersten Konzerts in der Aula | |
des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Düsseldorf-Bilk, auf der Bühne eine | |
Deutschlandfahne verbrannt haben. | |
Wir haben uns schon in der guten Zeit von Deutschland entfremdet gefühlt, | |
also ich zumindest. Ich hab mich immer schon gefühlt, als gehörte ich da | |
nicht hin. Ich hab das dann ja auch konsequent vollzogen und meinen | |
Standort gewechselt. Aber wie gesagt, das war noch die gute Zeit. Die Zeit, | |
in der die SPD regiert hat und es die RAF noch gab. Ich bin gegen Gewalt, | |
aber es war eine Zeit, in der die Politiker noch zittern mussten, das waren | |
die guten Siebziger. In den Achtzigern fing die Kohl-Ära an, da ging’s | |
bergab. In den Siebzigern hatte ich eine unbändige Wut auf sehr viele | |
Dinge. In England hat Siouxsie von Siouxsie and The Banshees eine | |
Hakenkreuzbinde getragen, um zu schocken. Eine Hakenkreuzbinde zu tragen | |
ist weder cool noch sonst was, aber das waren auch Engländer und nicht | |
Deutsche. Deutschlandfahne verbrennen war eine der radikalsten Ideen, aber | |
ich fand das gut, das hat Aufmerksamkeit erregt. Der Hausmeister kam | |
angerannt mit zwei Wassereimern, es gab einen Riesenaufruhr. Die Leute in | |
der Schulaula, da waren glaub ich tausend Leute drin, sind ausgerastet. | |
Sie waren Schüler des Gymnasiums, wie wurde das diskutiert? | |
Ich war erstaunt, dass der Rektor uns keinen Verweis gegeben hat. Der war | |
immer recht freundlich zu mir, vielleicht war er ein Sympathisant, ich weiß | |
es nicht. Wir wurden als kleine Revoluzzer gesehen. Wir haben damals noch | |
versucht, unser Ding zu finden, aber wir wussten, was wir wollten: | |
Aufrütteln, den Leuten einen vor’n Bug knallen. | |
Was hat Sie so aufgeregt? | |
Die Leute! Die Leute, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte, das war das | |
Schlimmste für mich. Die Normen, in Deutschland ist alles reglementiert. | |
Aber vor allem haben mich die Leute aufgeregt, die Spießer. Diese Arroganz | |
mit Ignoranz gepaart, [3][dieses deutsche Ding], das ist für mich ein rotes | |
Tuch. Das kann ich bis heute nicht ab. Die Schule hieß | |
Geschwister-Scholl-Gymnasium, dort hätte es Lehrer geben müssen, die diesem | |
Namensauftrag entsprechen. Aber das war leider nicht so. Da gab es jede | |
Menge Lehrer, denen schielte aus jedem Knopfloch, dass die schon unter | |
Adolf Hitler ihr Unwesen getrieben hatten. Ich kann mich an einige | |
erinnern, [4][die hundertprozentige Alt-Nazis waren]. Richtig übles Volk. | |
Das geht mir heut noch nahe, wenn ich dran denke. | |
Wenn Sie heute auf Deutschland blicken, was sehen Sie? | |
Ich schaue außer den amerikanischen auch die deutschen Nachrichten. | |
Letztens wurden in der „Tagesschau“ die USA, Afrika und Indien in einem | |
Atemzug genannt. Es wurde gesagt, dass es aufgrund der Pandemie lange | |
Schlangen vor den Arbeitsämtern gibt und die Lage der Menschen hoffnungslos | |
sei. Alle Leute, die ich kenne, die arbeitslos geworden sind, bekommen | |
wöchentlich einen Scheck über 600 Dollar von der Workers Union. Sie | |
bekommen 70 Prozent von ihrem bisherigen Gehalt noch obendrauf. Jeder hat | |
außerdem seinen Stimulus Check bekommen, und dann kamen weitere. Alle meine | |
Freunde haben jetzt einen Savings Account, haben die vorher noch nie | |
gehabt! Das wird in der „Tagesschau“ natürlich nicht beleuchtet. „Wieso, | |
ich denke, die haben in Amiland so ein schlechtes Sozialsystem? Die sind ja | |
alle gar nicht versichert!“ Das ist alles Propaganda. Jeder kann sich | |
versichern, wenn er will, muss aber nicht. Es bleibt dir selbst überlassen, | |
ob du die Versicherungsunternehmen unterstützen willst oder die hart | |
verdienten Dollars lieber unterm Kopfkissen hortest. | |
Was erwarten Sie von der neuen Regierung Biden? | |
Joe Biden ist ein Mann des Volkes, der wohl am ehesten die extrem | |
gespaltenen Lager halbwegs auf einen Nenner bringen kann. Im Gegensatz zu | |
„Agent Orange“, der nur der reichen Oberschicht Vorteile brachte, wird | |
Biden sein Bestes tun. Es wird ihm nicht leichtfallen, weil die | |
Republikaner ihm Knüppel zwischen die Beine schmeißen werden. Es wird Zeit, | |
dass der Senat wieder in Demokratenhände fällt. Wishful thinking. | |
9 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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