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# taz.de -- Punk – Rebellion gegen den Stasistaat: Vorwärts, vorwärts, nie …
> Punk wurde in der DDR nicht verstanden, aber brutal verfolgt. Die
> Kompilation „too much future“ zeigt, wie sich die SED ihr eigenes Grab
> schaufelte.
Bild: Aufruhr im Kinderzimmer: Henryk Gericke von The Leistungsleichen, Ostberl…
Es ist ein großer Popsong, den das Duo Rosa Beton 1983 im Berliner Vorwort
Hönow im Kinderzimmer des damals 16 Jahre alten Thomas Wagner mittels einer
Vierspurmaschine aufnahm. Eine simple Melodie schraubt sich über stoisch
rumpelnden Beats ins Hirn, beim zweiten Refrain singt man schon mit: „Ich
bin schon 16 Jahre im Exil. 16 Jahre sind schon viel zu viel.“ Lakonischer
kann man [1][Teenagerfrust über das Leben im „ersten sozialistischen Staat
auf deutschem Boden“] nicht artikulieren.
Thomas Wagner und sein Bandkollege Ronald „Mausi“ Mausolf singen davon, zu
einer Existenz in einem Bunker verbannt zu sein, als handle es sich um eine
verflossene Liebe. Rosa Beton traten nie auf, aber ihr Demotape erfreute
sich in Ostberlin einiger Beliebtheit. Jetzt ist das Stück erstmals
offiziell veröffentlicht worden.
Punk aus der Deutschen Demokratischen Republik war im Westen ein Gerücht.
Man konnte in den Achtzigern darüber in der Zeitung lesen, hin und wieder
ein paar dunkle Gestalten im Fernsehen betrachten; einzelne Songs wurden
von Reportern aus dem Land geschmuggelt und im Radio (West) gespielt. Unter
den wenigen im Westen erschienenen Dokumenten dieses Sounds waren unter
anderem eine Kompilation und ein Split-Album, die für die Protagonisten im
Osten zum Teil üble Folgen hatten.
Inzwischen aber ist die Ostpunkszene in einer Fülle von Publikationen und
Filmen durchleuchtet worden. Eines der nachhaltigsten pophistorischen
Projekte ist der Forschungscluster „Too Much Future“, der im Jahr 2005 eine
Serie von Ausstellungen kuratierte. Dazu erschienen Kataloge und 2007 eine
ebenfalls „Too Much Future“ betitelte Kinodokumentation. Dann wurde weiter
im Archiv gearbeitet. Ergebnis ist eine nun vorliegende Kompilation, die
den letzten Akt des Projekts „Too Much Future“ markiert und die man mit Fug
und Recht als Kanon der Punkgeschichte der DDR bezeichnen kann.
Warum dieser Titel? „Ob zunächst nur gefühlt und später bewusst, die
Verachtung der Punks richtete sich gegen eine Musterutopie, welche die
Zukunft für alle Zeiten festschrieb“, schreibt Henryk Gericke. „Ihr ‚No
Future‘ hieß ‚Too Much Future‘.“
Henryk Gericke und Maik Reichenbach versammeln in einer Box mit drei
Schallplatten ausschließlich Aufnahmen von Bands, „die in der Illegalität
aktiv waren und der Pflicht zur staatlichen Einstufung konsequent einen
Spieltrieb entgegensetzten, der sich um keine Spielerlaubnis scherte“,
schreiben die beiden im Editorial zum Heft, das der Box beigelegt und
besser als Buch denn als Booklet beschrieben ist.
Darin hat Gericke zu jeder Band einen Text geschrieben, der kenntnisreich
harte Fakten mit Kolportage vermischt, vor nichts Respekt hat, aber viel
Humor. Es handelt sich also um veritable Punkliteratur, die ich mit großem
Vergnügen gelesen habe und die das akustische Material zum Teil überhaupt
erst erschließt. Im Vorwort gibt's zu den Texten eine Triggerwarnung:
„Punktradierte Ressentiments werden im Booklet pflichtschuldigst bedient,
auf Political Correctness wird verzichtet, Sarkasmus alter Schule
verpflichtet.“
Punk wurde von den staatlichen Organen in der DDR nicht verstanden, aber
brutal verfolgt. „Halbstarke, Hippies und Punks wurden von einer
elastischen Vielfalt berüchtigter Gummiparagraphen gemaßregelt“, schreibt
Gericke. „Wiederholt aufgeführte Klassiker im Strafregister der
Staatsanwaltschaft waren § 220 Öffentliche Herabwürdigung, § 212 Widerstand
gegen staatliche Maßnahmen, § 217 Zusammenrottung, § 215 Rowdytum, § 219
Ungesetzliche Verbindungsaufnahme, § 214 Beeinträchtigung staatlicher und
gesellschaftlicher Tätigkeit.“
Überwachung, Rekrutierung von IMs aus der Szene durch das Ministerium für
Staatssicherheit, Zugriffe, Verhaftungen, Zersetzung, also Psychoterror –
das war das Maßnahmenarsenal, mit dem der Staat auf die künstlerische
Produktivität seiner jungen Bürger reagierte und so einer ganzen Generation
deutlich machte, dass die DDR nicht nur eine spaßbefreite Zone war, sondern
dass der Staatsapparat das eigene Leben jederzeit zugrunde richten konnte,
wenn man sich nicht konform verhielt.
Der Umgang mit Punk zeigte die Verknöcherung des Systems und war zugleich
einer der Spatenstiche, mit denen dieser Staat sein eigenes Grab
schaufelte: „Keine Szene wurde derart intensiv von der Staatssicherheit
betreut wie die Punkszene, und keine Jugendbewegung zuvor war davon weniger
zu beeindrucken“, schreibt Gericke. Das kann man der Musik noch heute
anhören. Die Aufnahmen wurden größtenteils mit Kassettenrekorder getätigt.
Aber trotz dementsprechend scheppernden Sounds – die Sänger mussten oft vor
dem Aufnahmegerät knien, um sich stimmlich gegen ihre elektrisch
verstärkten Bandkollegen durchsetzen zu können – transportiert sich die
Energie.
Ein Song wie „DDR Terrorstaat“ verließ aus naheliegenden Gründen den
Berliner Proberaum nie: „DDR Terrorstaat, wir haben deine Scheiße satt /
DDR, mein Vaterland, du raubst uns nochmal den Verstand.“ Andere, wie
„Friedensstaat“ von l’Attentat aus Leipzig, waren in der Szene Hits. Es
gibt neben erstklassigen Lyrics grobschlächtige Slogans von den Sham 69 der
DDR, Schleim-Keim, zu hören, stumpfer Prollpunk folgt auf den
avantgardistischen No Wave von Torpedo Mahlsdorf. Aus Bands wie Rosa Extra
wuchsen viele Äste eines [2][verzweigten Stammbaums bis in die Gegenwart].
Ironisch und sehnsuchtsvoll zugleich klingt der New-Wave-Sound von Ernst F.
All: „Vorwärts, vorwärts, nie zurück / Das ist die Zeit / Leben für den
Augenblick / Das ist die Zeit / Immer nach vorn / Nicht daran denken / wer
verliert, wenn der Mensch gewinnt.“ Das Stück wurde 1981 in Weimar
aufgenommen. Ernst F. All waren aus den Creepers hervorgegangen, eine der
ersten DDR-Punkbands, schon 1979 im Punk-Hotspot Thüringen gegründet. Punk
hat im Osten wie im Westen gerade in der Provinz [3][die klügsten und die
radikalsten Elemente] zusammengebracht. Und schon begann der alchemistische
Prozess der Rebellion.
4 Oct 2020
## LINKS
[1] /Roman-ueber-rebellierende-Jugendliche/!5543392
[2] /Punk-Soul-Brothers-gegen-Menschmaschine/!5666565
[3] /Gabi-Delgado-Lopez-ist-tot/!5670679
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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