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# taz.de -- Die NDW-Band The Wirtschaftswunder: Schwester, was ist Ypsilon?
> The Wirtschaftswunder waren eine der besten Bands der Neuen Deutschen
> Welle. Ihre Lieder berichteten von einem neuen, vielstimmigen
> Deutschland.
Bild: Mark Pfurtscheller, Jürgen Beuth, Angelo Galizia und Tom Dokoupil waren …
Auf seiner Reise von Frankfurt am Main nach Limburg macht der Journalist
Harald InHülsen Zwischenstopp in einem kleinen Ort. In der
„Herrenabteilung“ vom Bahnhofsklo entdeckt InHülsen den Spruch: „Se
Wirtschaftswunder beste Punk Gruup von Welt.“ In Limburg an der Lahn begibt
sich der Journalist mit der dort beheimateten Band The Wirtschaftswunder in
die Gaststätte „Schwarzer Herzog“. Die Eisdielen der Stadt, in die man sich
hatte setzen wollen, waren entweder zu voll oder zu laut.
Warum fährt ein Journalist vom Musik Express im Frühjahr 1982 in die
Provinz? Warum will er sich mit The Wirtschaftswunder in einer Eisdiele
treffen? Antwort eins: The Wirtschaftswunder sind vielleicht nicht „beste
Punk Gruup von Welt“, aber eine der besten und beliebtesten Bands, die zu
jener Zeit unter der Genrebezeichnung Neue Deutsche Welle auf allen Kanälen
zu hören sind.
Als InHülsen die Band besucht, hat The Wirtschaftswunder eben seine zweite,
selbstbetitelte LP bei der Plattenfirma Polydor veröffentlicht. Zwei Jahre
zuvor, als sich überall in Westdeutschland, in der DDR, in der Schweiz und
in Österreich junge Bands gründeten und [1][Musik mit deutschen Texten zu
spielen begannen], hatte die Band im Vierspurstudio des Gitarristen Tom
Dokoupil ihr erstes Album mit dem Titel „Salmobray“ aufgenommen. Es
erschien bei Alfred Hilsbergs ZickZack-Label in Hamburg. Vor Kurzem wurde
es als vergessener Klassiker zusammen mit weiteren frühen Aufnahmen von
Tapete Records wiederveröffentlicht.
Warum aber sollte es zum Interview in die Eisdiele gehen? Zum einen gibt es
in kleinen und mittelgroßen Städten in der Bundesrepublik Anfang der 1980er
nur drei Orte, an denen man sich nachmittags zusammensetzen, reden, rauchen
und trinken kann: Restaurants, Kneipen und Eisdielen. Zum anderen heißt
eins der Stücke auf dem Debütalbum der Band „Eis“. Darin spielen mehrere
Eisdielen eine wesentliche Rolle: „Eissalon Turin, Eissalon Venedig,
Eissalon Mailand, Eissalon Rom.“
Die italienischen Gastarbeiter hatten den Deutschen Pasta, Pizza und selbst
gemachtes Eis gebracht. Ihre Eiscafés benannten sie nach Städten, die den
Deutschen italienisches Flair versprachen. Eiscafés mit Namen Venezia
dürfte es viele gegeben haben. Ob aber wirklich welche existierten, die
Turin hießen, ist eine andere Frage. Einen besonderen Dreh bekam dieser
Text durch die Tatsache, dass Angelo Galizia ihn vortrug. Denn das ist
vielleicht das Außergewöhnlichste an dieser Band: Deutsche New-Wave-Bands
gab es 1980 viele. Nur eine jedoch, in der ein italienischer Gastarbeiter
in starkem Akzent und in teils gebrochenem Deutsch, aber auch auf
Italienisch, Französisch und Englisch sang.
„Ich habe immer mit diesem komischem Akzent italienisch-deutsch gesprochen
und man kann die Texte nicht richtig verstehen“, sagt Angelo Galizia heute.
Deutsch habe er auf den Straßen von Limburg gelernt, sagt Angelo. „Meine
Freunde waren Deutsche.“
The Wirtschaftswunder komponieren Popsongs mit mitreißenden Melodien, denen
sie – auf Platte und live – experimentelle Stücke voller Dissonanzen und
schräger Harmonien folgen lassen. Ihre Texte handeln von Sex: „Sprung und
Biss, das macht geil.“ Sie singen über das Tanzen, denn sie tanzen ja
selber jeden Abend: „Komm Mädel, tanz mit mir. Hand auf Herz. Ich will in
dir – heine, heine rein.“ Sie befassen sich mit Krieg und Militarismus: „…
sono il generale. Ich grüße die Parade. Ich bin stolz auf euch Soldaten.
Ich führe euch zum Sieg.“ Sie blicken, es sind ja die frühen Achtziger,
verwundert und entfremdet auf die deutsche Ordnung und das medial
vermittelte Gesellschaftstheater: „Schein, Schein. Geldschein,
Sonnenschein. Parkschein, Totenschein. Jagdschein, Krankenschein.
Gutschein, Heiligenschein. Heutzutag is alles nur Schein. Am liebsten wär
ich scheintot.“
Diese vier jungen Männer schreiben eingängige Refrains zum Mitsingen, aber
verwirren ihre Zuhörer einen Moment später mit dadaistischen Texten, die
Ambivalenzen erzeugen, weil man oft nicht so recht sagen kann, was ironisch
gemeint ist und was ganz naiv eine Szene beschreibt oder ein Gefühl
wiedergibt.
Gleich das erste Stück auf dem Debütalbum „Salmobray“ macht Sprache und
Text zum Thema. Es heißt „Analphabet“. Da singt Angelo Galizia: „A–e�…
Ich bin Analphabet. Ich bin Analphabet. Was soll denn das bedeuten? Ich
habe keine Ahnung. Schwester, was ist Ypsilon? Y ist interessant. Oh, ich
will alles lernen! Oh, ich will alles lernen!“
Galizia erklärt: „Das Lied ‚Analphabet‘ handelt von mir, weil ich nicht …
Schule gegangen bin. Ich bin ein bisschen analphabetisch – nicht richtig
analphabetisch, aber was die Grammatik angeht. So haben wir Texte über uns
selbst geschrieben. Das ist ein universeller Text für diejenigen, die nicht
studiert haben.“ Angelo Galizia war 1971 dem Vater aus der sizilianischen
Stadt Biancavilla nach Limburg gefolgt. „Mein Vater hat mich gefragt,
willst du mal nach Deutschland kommen? Ich habe gesagt, ja. Ich war 17,
fast 18 Jahre alt“, erzählt Angelo, der schon seit Jahrzehnten wieder in
Biancavilla lebt.
Die Situation der Gastarbeiter hat Angelo in „Heimweh“, dem letzten, sehr
langsamen und dramatischen Stück von „Salmobray“, auf knappe Weise so
charakterisiert: „Ich komm von Süd und such mein Glück. Heimweh, Heimweh.
Bei euch in Nord. Oh wie kalt. Bei euch in Nord. Heimweh, Heimweh.
Biancavilla I come back.“ Das ist der vollständige Text, damit ist das
Wesentliche gesagt.
Angelos Freund und Bandkollege Mark Pfurtscheller sagt: „Angelos Familie
gehörte zur ersten Gastarbeitergeneration, die in Limburg in der Altstadt
gewohnt haben. Damals waren die Häuser in der Altstadt noch nicht saniert.
Sie hatten keine richtigen Toiletten, das waren harte Bedingungen.“
Schon auf ihrer zweiten Single hatten The Wirtschaftswunder einen Ausländer
auftreten lassen. Über der Titelmelodie der Fernsehserie „Der Kommissar“
war ein Dialog aus einer Episode zu hören. Die Fragen des Kommissars,
gespielt von Erik Ode, sind im Original zu hören, doch die Antworten des
Verdächtigen, Dr. Tucher, wurden durch Antworten von Angelo Galizia
ersetzt. Wer wollte, konnte aus dieser musikalischen Klamotte schon damals
einen Verweis auf Racial Profiling durch deutsche Polizisten herauslesen.
Kommissar Keller: „Hat sie immer lange Kleider getragen?“ Angelo Galizia:
„Ja, sie war doch eine Hippiemädchen.“ Kommissar Keller: „Hatten Sie ein…
Streit, gestern Abend?“ Angelo Galizia: „Ja, wir haben uns gestritten wie
die Verrückt. Aber ich konnte nichts dafür. Sie ist mir weggelaufen, aber
ich habe nicht totgemacht!“
Auf ihrem zweiten Album widmen The Wirtschaftswunder [2][den Türken in
Deutschland ein Lied]. „Tapetto Magico“, Fliegender Teppich, heißt es. Sein
Text besteht aus einer einzigen Zeile: „Io volo con tapetto magico over
Germany.“ Mark, der das Stück geschrieben hat – Angelo übersetzte und
ergänzte den Text – meint heute: „Der Fliegende Teppich ist ein schönes
Bild für die Sogwirkung von Deutschland in einer Zeit höher
Arbeitslosigkeit. Das war schon damals klar, es gibt die Festung Europa,
und die Mauern werden immer höher. Man kommt nur noch mit dem Fliegenden
Teppich hier rein.“
The Wirtschaftswunder selbst bezeichnete sich als „internationale“ Band.
Tom Dokoupils Familie ist während des Prager Frühlings 1968 aus der CSSR
nach Deutschland geflohen. Mark Pfurtschellers Eltern waren in den 1950ern
nach Kanada ausgewandert und zehn Jahre später mit dem in Toronto geborenen
Mark nach Deutschland zurückgekehrt. Wo der Junge sich nun wunderte, warum
hier Serien neu im Fernsehen liefen, die er alle schon längst gesehen
hatte. „Ich habe mich nicht sehr deutsch gefühlt, als ich hier ankam, da
war alles anders, das war komisch“, sagt Mark. Nur Jürgen Beuth hat eine
ungebrochen deutsche Biografie.
Umso erstaunlicher ist, dass The Wirtschaftswunder, diese prototypische
Band eines neuen Deutschlands, dem kulturellen Gedächtnis entschwunden zu
sein scheinen. Dabei klingen ihre alten Aufnahmen recht frisch. Noch im
Abstand von 40 Jahren transportieren sich die Energie und der Humor dieser
Gruppe.
Auf Youtube ist ein Konzert im Messinghof in Kassel dokumentiert, das The
Wirtschaftswunder 1980 gaben. Alle tragen Hemd und Krawatte, Angelo Galizia
einen gut sitzenden Anzug, der wenige Jahre zuvor noch modern gewesen sein
dürfte. Mark Pfurtscheller betätigt verschiedene Synthesizer, manchmal geht
ihm dabei Tom Dokoupil zur Hand, der ansonsten wie ein Berserker mit seiner
Gitarre herumtobt.
[3][Als The Wirtschaftswunder das Stück „Metall“ spielen], das von Galizias
Zeit in einer Metallfabrik inspiriert war, malträtiert Dokoupil eine
Metallsäule mit einer Flex und lässt die Funken ins Publikum fliegen, das
vornehmlich aus jungen Freaks besteht, die hin- und hergerissen zu sein
scheinen, wie sie das nun alles finden sollen. Angelo Galizia tanzt und
singt dazu: „Ich liebe Metall, es ist so hart, so hart wie Stahl, so hart
wie ich.“ Währenddessen Jürgen Beuth stoisch, präzise und funky sein
Schlagzeug spielt und dann doch lächeln muss.
Angelo arbeitet als Achtzehnjähriger zuerst in der Limburger
Blechwarenfabrik, die heute noch existiert. „Dann hab ich dort keinen Bock
mehr gehabt, hab mich kündigen lassen und bin in eine andere Fabrik
gegangen. Aber abends wollte ich immer in die Disco gehen. Damals hat mir
Soul gefallen. Ich habe viele schwarze Leute aus der US Army kennengelernt,
die aus Wiesbaden gekommen sind. Wir tanzten zu James Brown und den
Temptations.“
In der Disko Zoom lernt er Mark kennen. Das Zoom war „eine
New-Wave-Punk-Disco, zu der alle Punks von Kassel, Frankfurt, Wiesbaden,
Koblenz kamen – zufällig in unserer Stadt, aus der wir kamen“, erzählt
Mark. Gemeint ist das Städtchen Diez, das direkt neben Limburg liegt. Bald
darauf kommt Angelo zu einer Bandprobe und ist fortan der neue Sänger von
The Wirtschaftswunder: „Ich wollte schon immer auf der Bühne stehen. Ich
wollte singen, was Neues herausbringen.“
Neu ist der Sound von The Wirtschaftswunder. „Ich glaube, das Wichtigste
ist, dass wir so etwas wie eine ‚deutsche Musik‘ versuchen“, sagte Mark
Pfurtscheller damals dazu. Tom Dokoupil sah das auch so. Er behauptete
rundheraus, The Wirtschaftswunder spielten „deutsche Volksmusik“. Er
attestierte seiner Band aber zugleich „eine bestimmte Mentalität. Dass du
dir noch einen Abstand bewahrst in Deutschland.“ Ja, es ist ein
merkwürdiges Land, über das The Wirtschaftswunder in ihren Liedern singen:
„Die Sonne scheint. Die Leute sind alle wach. Die gehen schon alle
einkaufen. Ich weiß nicht warum, aber: Die Leute sind interessant! Wir sind
die besten Leute, oh Leute, was in Welt es gibt. Wir sind wie der
Sonnenschein.“
6 Feb 2022
## LINKS
[1] /Punk-Musiker-Engler-ueber-Nazi-Lehrer/!5731137
[2] https://www.merkur-zeitschrift.de/2021/04/23/kebabtraeume-in-der-mauerstadt/
[3] https://www.youtube.com/watch?v=OVAraTkQIHM
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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