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# taz.de -- Aufarbeitung Nachkriegszeit: Gegen den Mythos der Stunde Null
> Erfolgsnarrativ infragegestellt: In Berlin tauschten sich Historiker über
> die Nazi-Präsenz in den Ministerien der Bundesrepublik nach 1945 aus.
Bild: Der Historiker Moshe Zimmermann, Teilnehmer der Kommission beim Auswärti…
Als Joschka Fischer, Bundesminister des Auswärtigen Amtes, im Juli 2005
eine Historikerkommission einsetzte, die sein Ministerium untersuchen
sollte, war ihm die Aufmerksamkeit gewiss. Die unabhängige Aufarbeitung der
dunklen Geschichte einer so wichtigen Institution, auf ausdrücklichen
Wunsch derselben, durch ein groß angelegtes Forschungsprojekt – das hatte
es bisher nicht gegeben.
Zur Geschichte der Bundesrepublik und der DDR gehörte ja gerade, lieber
nicht so genau auf die Kontinuitäten in Staat und Gesellschaft zu schauen
und sich stattdessen auf die mythologische „Stunde Null“ zu berufen: Vorher
waren die Nazis, nachher die Demokratie.
Die Kommission sollte die Rolle des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des
Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach der
Wiedergründung des Auswärtigen Amtes 1951 und die Frage personeller
Kontinuitäten nach ’45 klären. Fünf Jahre später lagen die Ergebnisse vor.
Es zeigte sich, wenig überraschend, dass „dass das Auswärtige Amt tief in
die Verbrechen des 'Dritten Reiches’ verstrickt war“.
## Baustein in der Diplomatenausbildung
Der neue Außenminister Guido Westerwelle versprach damals, dass die Studie
in der Diplomatenausbildung künftig zu einer „festen Größe“ werden würd…
In der Ausbildung von Juristen spielt die Rolle des eigenen Standes bei der
Vorbereitung, Ausübung und Legitimierung des nationalsozialistischen
Terrors und das Versäumnis seiner juristischen Aufarbeitung nach ’45 immer
noch so gut wie keine Rolle. Daher ist es begrüßenswert, dass auch das
Justizministerium im Jahr 2012 eine eigene historische Kommission
eingesetzt hat.
Die Forschergruppe beschäftigt sich nicht nur damit, wie das
Justizministerium in den Fünfzigern und Sechzigern mit seiner eigenen
Geschichte und mit NS-Tätern umgegangen ist. Die Forschungsergebnisse
sollen künftig in die Ausbildung junger Juristinnen und Juristen
einfließen, wie am Dienstag (26. April 2016) im Haus der Wannsee-Konferenz
in Berlin zu hören war.
Die „Unabhängige Wissenschaftliche Kommission beim Bundesministerium der
Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“, wie sie mit vollem Titel
heißt, hatte zum 5. Rosenburg-Symposium über „Die frühe Bundesrepublik und
die NS-Vergangenheit“ an den Wannsee geladen. (Die Rosenburg war von 1950
bis 1973 Sitz des Ministeriums.) Vertreter der Aufarbeiter-Kommissionen,
von denen es inzwischen viele gibt, waren zusammengekommen, um ihre ihre
Forschungsdesigns zu vergleichen und sich über erste Ergebnisse
auszutauschen.
## Mehr als „Nazizählerei“
Historiker betreiben derzeit Auftragsforschung für die Bundesministerien
für Arbeit und Soziales, für Inneres, für Wirtschaft und Energie, aber auch
für den Bundesnachrichtendienst und das Bundeskriminalamt. Allerdings sind
die untersuchten Zeiträume sehr unterschiedlich. Den größten Kraftakt
leistet die Kommission beim Wirtschaftministerium, wie deren Sprecher
Albrecht Ritschl deutlich machte: Sie untersucht den Zeitraum von 1917 bis
1990, um Kontinuitäten tatsächlich in einem großen Bogen erfassen zu
können.
1910 war das Jahr, in dem viele der Beamte geboren wurden, die im „Dritten
Reich“ Karriere machten, und in den Fünfzigern wieder an diese anknüpfen
konnten.
Obwohl sich die Teilnehmer darüber einig waren, dass es bei ihrer Arbeit
nicht um „Nazizählerei“ gehe, sind die Statistiken doch aufschlussreich. In
vielen Institutionen stieg die Zahl ehemaliger Parteigenossen erst nach
1951 stark an. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte die Kontrolle
durch die Allierten deren Beschäftigung verhindert. Vor allem aber suchte
man in dieser Zeit vermehrt nach Personal, um die Institutionen weiter
aufzubauen.
## Selbstrekrutierung beim Bundeskriminalamt
Besonders problematisch ist diese Phase beim BKA, wie Patrick Wagner
zeigte: Ab 1951 beginnt im BKA ein „Prozess der Selbstrekrutierung“, was
schon für sich genommen ein Problem ist. Zugleich sind zu diesem Zeitpunkt
die weniger „belasteten“ Polizeibeamten schon zum großen Teil von den
Landespolizeibehörden eingestellt worden. Übrig bleiben Leute, die in den
Ostgebieten oftmals direkt an der Vernichtungsmaschinerie mitgewirkt haben
und vor allem für die Bekämpfung von politischen Gegnergruppen qualifiziert
sind.
Diese Männer sind von einer Bürgerkriegsmentalität geprägt und erledigen
ihre Büroarbeit nicht nur metaphorisch mit einer geladenen Pistole im
Halfter.
Warum haben die vielen alten Nazis in Ministerien und Behörden nicht viel
mehr Unheil angerichtet und die Demokratisierung der Bundesrepublik
sabotiert? Das ist eine Frage, die sich den Forschern stellt, und Patrick
Wagner hat in Bezug auf das BKA eine klare Antwort: Diese Männer können
ihre Fantasien nicht ausleben, sie werden eingehegt.
## Anpassungsleistung und Pensionsansprüche
Eckart Conze, der an der Kommission des Auswärtigen Amts mitarbeitete, hat
für solche Anpassungsleistung eine so einfach wie logische Erklärung: Nach
Kriegsende mussten viele dieser Männern daran zweifeln, ob sie jemals
wieder an ihr altes, bürgerliches Leben würden anknüpfen können. Jetzt ist
ihnen ihre bürgerliche Sekurität – Reputation, Einkommen, Pensionsansprüche
– zu wichtig, um sie einem ideologischen Projekt zu opfern.
Der Begriff der Belastung müsse historisiert werden, hat Andreas Wirsching
in seiner Einführung zuvor nachvollziehbar argumentiert, und manche seiner
Kollegen fassen ihn auch nur mit spitzen Fingern an, manche benutzen ihn
dagegen distanzlos und ohne Anführungsstriche. Liest man ihn psychologisch,
kann er allerdings auch von Nutzen sein.
Die Frage der individuellen Psychologie gingen Martin Münzel von der
Kommission des Arbeitsministeriums und Helmut Kramer vom Forum
Justizgeschichte von zwei verschiedenen Seiten an. Münzel fragte, ob das
Bild rachelüsterner ehemaliger Parteigenossen in der jungen Bundesrepublik
nicht etwas einseitig sei. Man könne sich doch auch vorstellen, dass
Angehörige der NS-Funktionseliten nun mit gewisser Demut in die Welt
blickten und sich vielleicht sogar aus innerer Überzeugung zu Demokraten
wandelten.
## Überraschende Loyalitäten
Helmut Kramer beschrieb an einem Beispiel Loyalitäten der anderen Art, wie
sich etwa durch das Regime Benachteiligte oder gar Verfolgte für Leute
einsetzten, die im Nationalsozialismus Karriere machten oder gar zu Tätern
wurden, weil sie sie persönlich, als Menschen schätzten.
Eine wichtige Konsequenz für unser nationales Selbstbild hat die Arbeit
dieser Kommissionen jetzt schon. Sie stellen das liebgewonnene
bundesdeutsche Erfolgs-Narrativ in Frage: Die Bundesrepublik hat gut
funktioniert, aber ob sie sich wirklich erfolgreich liberalisiert, ihre
Vergangenheit tatsächlich nach dem Krieg „aufgearbeitet“ hat, ist eine
andere Frage.
## Kontinuität nationalsozialistisches Denken
Die Politik gegenüber „Asozialen“ und „Zigeunern“ etwa, um nur ein
drastisches Beispiel zu nennen, war weiterhin von nationalsozialistischem
Denken geprägt. „So toll hat das bei uns nicht geklappt“, fasste Christoph
Safferling von der Kommission des Justizministeriums die Diskussion um
Kontinuitäten zusammen.
Geklappt hat beim Treffen der Aufarbeiterkommissionen wiederum nicht, die
gesellschaftlichen Folgen der weiterhin starken Nazipräsenz in
Institutionen der Nachkriegszeit abgesehen von sehr spezifischen Befunden
zu skizzieren, obwohl diese Frage auf der Tagesordnung stand.
Moshe Zimmermann, der selbst an der Kommission beim Auswärtigen Amt
beteiligt war, fragte daher am Ende provozierend, was immer neue
ministerielle Aufarbeitungskommissionen bringen: Ist das Ergebnis nicht
more of the same? Schade, meinte Zimmermann, dass für die Erforschung der
Nachkriegswirkung der Arbeit von Heinz Rühmann oder Veit Harlan nicht
ebenso großzügig dotierte Kommissionen eingerichtet würden. Da ist was
dran.
28 Apr 2016
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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