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# taz.de -- 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Schwindende Zeitgenossenschaft
> Mit ihren Erinnerungen berühren die noch übriggebliebenen „jungen
> Überlebenden“ die Nachgeborenen. Das Ende solcher Begegnungen ist in
> Sicht.
Bild: Die Letzten: Überlebende und ihre Angehörigen beim Gedenken im ehemalig…
Als Marko Feingold vor wenigen Wochen auf dem ehemaligen Appellplatz in
Buchenwald mit fester Stimme die antifaschistische Legende von der
Selbstbefreiung des Lagers im Frühjahr 1945 zurückwies – tatsächlich hatte
sich die SS vor den anrückenden Amerikanern davongemacht –, da blitzte
nicht nur eine überwunden geglaubte geschichtspolitische Kontroverse wieder
auf. Die Szene erhellte schlaglichtartig auch die Konditionen des Gedenkens
70 Jahre nach Kriegsende: Die allermeisten derer, die sich heute „erinnern“
sollen, sind nach den Ereignissen geboren.
Kraft eigener Rückbesinnung vermögen heute fast nur noch die seinerzeit
Heranwachsenden Zeugnis abzulegen: auf der einen Seite die Generation der
in der zweiten Kriegshälfte zur Flugabwehr beorderten Kindersoldaten
(vulgo: Flakhelfer) und die jüngsten unter den Wehrmachthelferinnen, auf
der anderen Seite die damals noch sehr jungen unter den Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeitern und den Überlebenden der Konzentrations- und
Vernichtungslager.
Auch deshalb ragte Feingold aus der Reihe der Zeitzeugen heraus, die bei
den Gedenkfeiern in Buchenwald am 11. April 2015 das Wort erhoben. Denn der
österreich-ungarische Jude, der nach Stationen in Auschwitz, Neuengamme und
Dachau seit 1941 auf dem Ettersberg bei Weimar in Haft gehalten wurde, war
bei seiner Befreiung durch die Amerikaner fast 32 Jahre alt; am 28. Mai
diesen Jahres wird er als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde
Salzburg seinen 102. Geburtstag feiern.
Mit der Autorität und dem Erinnerungsvermögen des damals schon Erwachsenen
kann heute also kaum noch jemand über das Kriegsende in Europa sprechen,
und auch dieses demografische Faktum beeinflusst die Art und Weise, wie wir
in diesem Jahr gedenken.
Die großen innenpolitischen Kontroversen über die Deutung und Bedeutung des
8. Mai 1945 sind mittlerweile Geschichte. Zum 25. Jahrestag des Kriegsendes
1970 hatte mit Gustav Heinemann überhaupt zum ersten Mal ein
Bundespräsident direkt zu dem Datum gesprochen. Denn Theodor Heuss, sein
Vorvorgänger, war noch nicht im Amt, als er anlässlich der Verabschiedung
des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 die bald auch von
anderen aufgegriffene Formel fand, die Deutschen seien durch die
Kapitulation „erlöst und vernichtet in einem“ gewesen.
Erst 1985 hatte dann Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen dezidiert
anderen Ton gesetzt. Indem er den 8. Mai zum „Tag der Befreiung“ erklärte,
hob der ehemalige Wehrmachtsoffizier auf eine normative Ebene, was er 15
Jahre zuvor als einfacher Abgeordneter der CDU im Bundestag zu Protokoll
gegeben hatte: „Keiner möge seine persönlichen Erlebnisse zum Maßstab für
alle machen.“
Zehn Jahre und einen Mauerfall später schien diese Mahnung vergessen.
Jedenfalls gingen dem mit beispiellosem internationalem Auftrieb begangenen
50. Jahrestag des Kriegsendes, in dessen Zentrum schließlich ein Staatsakt
in Berlin mit Vertretern der Vier Mächte stand, wochenlange Deutungskämpfe
voraus: Eine neurechte Szene und beträchtliche Teile des
bürgerlich-konservativen Lagers rebellierten lautstark gegen die
„einseitige“ Festlegung auf den Begriff der Befreiung.
Helmut Kohl nutzte die Gelegenheit, seinem Intimfeind von Weizsäcker, dem
unterdessen Roman Herzog als Bundespräsident gefolgt war, eine kaum
verkappte Rüge nachzurufen: „Niemand hat das Recht, festzulegen, was die
Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben.“
Die ebenso einfache wie grundlegende Wahrheit, dass es den Alliierten sechs
Jahrzehnte zuvor tatsächlich nicht um die Befreiung der Deutschen gegangen
war – und gehen musste –, sondern um die Befreiung der Welt vom
Nationalsozialismus, blieb auch 2005 unterthematisiert. Daran änderte auch
nichts, dass mit Gerhard Schröder 2005 erstmals ein deutscher Bundeskanzler
bei der Militärparade am 9. Mai in Moskau zugegen war.
Helmut Kohl nämlich war 1995 zwar Jelzins Einladung gefolgt, aber nicht auf
dem Roten Platz erschienen; ähnlich will es in diesem Jahr Kanzlerin Merkel
halten, wenn sie am 10. Mai zusammen mit Putin zum Grabmal des unbekannten
Soldaten geht.
Bereits im Frühjahr 1994, in einer ersten größeren demoskopischen Studie
nach der deutschen Vereinigung, hatte sich mehr als die Hälfte der
Befragten (53 Prozent) zu einem allgemeinen „Schlussstrich“ unter die
Vergangenheit bekannt. Zwanzig Jahre später misst Forsa 42 Prozent
Schlussstrich-Befürworter, während die Bertelsmann-Stiftung auf 58 Prozent
kommt – und von 81 Prozent aller Deutschen sagt, sie wollten die
[1][Geschichte des Holocaust irgendwie „hinter sich lassen“]. Man muss
solche Umfrageergebnisse nicht ernster nehmen als die Worte, in denen
darüber berichtet wird; oft genug bleibt unklar, was genau gemessen wurde.
Trotzdem verfestigt sich der Eindruck, dass es inzwischen vielfach gerade
Jugendliche und junge Erwachsene sind, die sich von der Geschichte der
NS-Zeit belästigt fühlen; eher genervt als in scharfem Ton versuchen sie
sich ihr zu entziehen. Die Vorstellung, dass es kollektive Zugehörigkeiten
geben könnte – und damit transgenerationelle historische Verantwortung
jenseits persönlicher Schuld –, scheint mehr und mehr aus dem Blickfeld zu
geraten, ja für anachronistisch gehalten zu werden.
Natürlich gilt das nicht unterschiedslos über alle sozialen Gruppen und
Schichten hinweg, und das Engagement vieler junger Leute in der breit
ausdifferenzierten Gedenkstättenlandschaft dieser Republik ist
bemerkenswert. Aber im Mittelpunkt steht auch dort oft eher die Geste des
empathischen Erinnerns als die Bereitschaft zur Aneignung von historischem
Wissen und zur Arbeit an einem aufgeklärten Geschichtsbewusstsein.
Für den Moment noch, das zeigten in diesem Frühjahr auch die
Befreiungsfeierlichkeiten in den ehemaligen Konzentrationslagern, gelingt
es den „jungen Überlebenden“, die Jungen zu berühren. Mit ihren
verkörperten Erinnerungen erreichen diese letzten Zeugen – vielleicht
gerade, weil sie so zart geworden sind – oftmals auch jene, die der „großen
Geschichte“ nur noch wenig oder gar nichts mehr abzugewinnen vermögen. Doch
das Ende solcher Begegnungen ist in Sicht.
Während unsere politische Klasse bei jeder sich bietenden Gelegenheit die
Notwendigkeit des „Erinnerns“ postuliert, wird überall im Land der
Geschichtsunterricht zusammengestrichen. Darin zeigt sich einmal mehr die
Krux einer Politik, die von historisch-politischer Reflexion nichts wissen
will. Dabei vermag doch nur Letztere zu verantwortlicher Einsicht zu
verhelfen: mit Blick auf den 8. Mai 1945 zum Beispiel zu der Erkenntnis,
wie notwendig die Kapitulation der Wehrmacht und der alliierte Sieg über
Hitlerdeutschland war.
Die Tatsache, dass das völkermörderische Regime in der Mitte Europas nicht
an seinen Gegnern im Innern scheiterte, sondern erst durch die gemeinsame
Anstrengung der liberalen Demokratien des Westens und einer – freilich
stalinistischen – Sowjetunion bezwungen werden konnte, gilt es im
historischen Gedächtnis zu bewahren. Für uns Deutsche bleibt das eine
politische Aufgabe sui generis. Sich ihr vorbehaltlos zu stellen, kann in
der gegenwärtigen politischen Lage aber auch Russland und dem Westen als
Ganzes nicht schaden.
8 May 2015
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Norbert Frei
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