# taz.de -- 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Der Nazi im Familienalbum | |
> Ob das Foto von Opa in SS-Uniform noch im Album klebt oder eine | |
> Leerstelle hinterlassen hat – es verbindet uns wie eine Nabelschnur mit | |
> der NS-Realität. | |
Bild: Posieren in Uniform: Dieses undatierte Bild aus dem Album von Willy Wilke… | |
Die meisten Fotos im Album zeigen ganz harmlose und manchmal sogar heitere | |
Szenen: Herumalbern und Sackhüpfen, darunter der schriftliche Kommentar: | |
„Spaß an der Front“. Trotzdem ist Jana Costas erschüttert, als sie diese | |
Bilder sieht. Denn Großonkel Gustav trägt dabei SS-Uniform. Beim weiteren | |
Durchblättern seines Kriegsalbums von der Ostfront hat sie ein anderes Foto | |
im Hinterkopf: Wie derselbe Mann sie als Baby in die Kamera hält, fröhlich | |
lachend auf sie als spätere Betrachterin blickt. | |
Dieses Foto hatte bis dahin das Bild ihres Großonkels bestimmt, den sie | |
nicht mehr bewusst kennengelernt hat. „Aber auf einmal bin ich auf dem Arm | |
eines SS-Nazi – es ist schwer diese Bilder miteinander zu vereinbaren“, | |
sagt sie. Costas kommt zudem aus einer deutsch-griechischen Familie, die | |
teilweise auch die Schrecken der NS-Besatzungszeit in Griechenland erlebt | |
hat. | |
Vor etwas über zehn Jahren belegte eine Studie des Sozialpsychologen Harald | |
Welzer, dass nur sechs Prozent der Deutschen meinen, ihre Eltern oder | |
Großeltern hätten ein positives Verhältnis zum Nationalsozialismus gehabt. | |
Besonders die jüngeren Deutschen fühlten sich zwar durch Schule und Medien | |
über die NS-Zeit gut informiert, häufig sogar übersättigt. Gleichzeitig | |
aber waren sie davon überzeugt: „Opa war kein Nazi!“ | |
Etwa zur selben Zeit begannen aber Kriegsfotografien, ihre irritierende | |
Kraft zu entfalten. In der Ausstellung des Hamburger [1][Instituts für | |
Sozialforschung über die „Verbrechen der Wehrmacht“] stellten sie das bis | |
dahin verbreitete Bild der sauberen Wehrmacht massiv in Frage. Väter und | |
Großväter, die in Wehrmachtsuniform auf zahllosen Fotos die deutschen Wohn- | |
und Schlafzimmer bevölkerten, standen plötzlich unter Generalverdacht. | |
## Raum für Spekulationen | |
Die in mehreren Städten gezeigte [2][Ausstellung „Fremde im Visier“ von | |
Petra Bopp] schließlich wies 2009 auf die vielen Fotoalben hin, die während | |
des Krieges von Soldaten angelegt worden waren. Sie schlummern heute in | |
Wohnzimmerschränken, Kellern oder Dachstuben und kommen meist erst im Zuge | |
von Todesfällen und Entrümpelungsaktionen wieder zum Vorschein. | |
Viele dieser Kriegsalben enthalten nicht nur Bilder vom scheinbar | |
unbeschwerten Kriegsalltag, sondern auch Fotos von Erhängungen und | |
Tötungsaktionen. Manchmal sind Fotografien auch nachträglich entfernt | |
worden und die Leerstellen lassen Raum für beunruhigende Spekulationen. | |
Aber auch in den vermeintlich harmlosen Familienfotografien wohnt die Kraft | |
der Verunsicherung. Gerade die alltägliche Normalität des Lebens im | |
Nationalsozialismus, die sich auf ihnen zeigt, bringt uns diese Zeit | |
unbehaglich nah. Fotos von Familienfesten, auf denen man bei näherem | |
Hinsehen erkennt, dass die meisten ein Parteiabzeichen am Revers tragen; | |
vom Richtfest eines Privathauses, auf dessen Dach eine Hakenkreuzfahne | |
weht; zwischen Familienfotos plötzlich eine offenbar gekaufte Fotografie | |
von Adolf Hitler, die ihn durch das visuelle Arrangement in die Familie | |
integriert. | |
Irritierend sind aber nicht nur Familienfotos, sondern auch historische | |
Aufnahmen, die zeigen, dass wir alle auf kontaminiertem Gelände leben. Von | |
einem Parteiaufmarsch auf dem Platz etwa, auf dem ich dienstags mein Gemüse | |
kaufe; von Hitler vor der Bibliothek, in der ich oft arbeite; von der | |
Straße, in der ich wohne, in der aus allen Fenstern Hakenkreuzfahnen | |
herausragen. | |
## Die NS-Zeit ist nicht so fern | |
Weit mehr als die gewohnten Bilder in den Medien, die uns gleichermaßen | |
bekannt und fern sind, lassen diese privaten Fotos eine persönliche Nähe zu | |
uns entstehen, die unheimlich ist. Sie verbinden das Vertraute mit dem | |
Schrecklichen, das über eine allgemeine Verantwortungsethik hinaus mit uns | |
persönlich doch scheinbar gar nichts mehr zu tun hatte. Private Fotografien | |
verbinden uns wie eine Nabelschnur mit der NS-Realität und führen uns | |
unwiderlegbar vor Augen: Sie war da, wo wir heute sind. Unsere Großeltern | |
lebten darin und waren ein aktiver Teil von ihr. | |
Diese Bilder bringen uns die NS- und Kriegszeit unbehaglich nahe, ohne sie | |
allerdings zu erklären. Sie werfen viele Fragen auf, ohne die Antworten | |
dafür bereit zu halten. Sie können aber den Anstoß dafür geben, sich über | |
die eigene Familiengeschichte näher mit der vermeintlich so fern gerückten | |
NS-Zeit zu beschäftigen. Die Enkelgeneration verfügt heute in der Regel | |
über den zeitlichen und emotionalen Abstand, der eine Annäherung jenseits | |
von familiär vermittelten Entschuldungsreflexen möglich macht. | |
Für Jana Costas hat ihr Dachbodenfund dazu geführt, dass sie mehr erfahren | |
will. Sie hat sich auf die Suche nach weiteren Zeugnissen gemacht, Briefe | |
und Tagebücher von Familienangehörigen gelesen und versucht, diese mit | |
historischen Erkenntnissen abzugleichen. Die Tatsache, dass es um die | |
eigene Familie geht, lässt die NS-Zeit zu einem eigenen biografischen | |
Hintergrund werden, der eine persönliche Relevanz besitzt. Das ist nicht | |
immer angenehm. Aber es stellt einen Bezug her zu einer Zeit, die uns trotz | |
medialer Dauerberieselung und bildungspolitischen Ambitionen oft fern | |
gerückt scheint und unbeteiligt lässt. | |
6 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/pdf/vdw_de.pdf | |
[2] http://www.fremde-im-visier.de/forschungsprojekt.html | |
## AUTOREN | |
Stephan Scholz | |
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