| # taz.de -- Auschwitz-Prozess in Lüneburg: Die Schuld des SS-Buchhalters | |
| > In Lüneburg steht ein Ex-SS-Mann vor Gericht. Er bekennt sich zu seiner | |
| > „moralischen Mitschuld“. Die Erklärung wirkt verstörend unbeteiligt. | |
| Bild: Bittet um Vergebung: der 93-jährige Angeklagte Oskar Gröning. | |
| LÜNEBURG taz | Der Angeklagte kommt mit dem Rollator. Oskar Gröning ist 93 | |
| Jahre alt und hat schlohweißes, fast noch volles Haar. Er sitzt ganz rechts | |
| in der zum Gerichtssaal umfunktionierten Ritterakademie in Lüneburg, und er | |
| hat es nicht weit gehabt. Gröning kommt nicht aus der Untersuchungshaft, | |
| sondern von seinem Eigenheim zu dem Verfahren. Es besteht keine | |
| Fluchtgefahr. Er setzt sich zwischen seine beiden Verteidiger. | |
| Eva Pusztai-Fahidi steht im 90. Lebenjahr. Die kleine, zierliche Frau sitzt | |
| dem Angeklagten fast genau gegenüber, vielleicht 15 oder 20 Meter entfernt, | |
| in der zweiten Reihe hinter den elf Anwälten der Nebenklage versteckt. | |
| Neben ihr sitzen vier weitere Zeugen dessen, was heute hier verhandelt | |
| wird. Auch ihre 23-jährige Enkelin Luca Hartai hat an ihrer Seite Platz | |
| genommen. Sie sei sehr stolz auf ihre Großmutter, sagt sie. Eva | |
| Pusztai-Fahidi ist aus Budapest angereist. Sie will wissen, was Oskar | |
| Gröning zu sagen hat, der Greis, der in einem früheren Leben einmal als | |
| SS-Unterscharführer in Auschwitz die Buchhaltung all der Gelder unterhielt, | |
| die die Nazis ihren Opfern abnahmen, bevor sie sie ins Gas schickten. | |
| Möglich, dass sich Eva Pusztai-Fahidi und Oskar Gröning schon einmal | |
| begegnet sind, damals in Auschwitz. Neben seiner Tätigkeit als Buchhalter | |
| hatte Gröning auch Dienst an der Rampe, dort wo die Juden sortiert worden | |
| sind in diejenigen, die sofort ins Gas geschickt wurden, und die, die die | |
| SS-Ärzte nach einem flüchtigen Blick als stark genug einschätzten, dass sie | |
| als Sklavenarbeiter schuften konnten. Gröning hatte dort auf das Gepäck | |
| aufzupassen, damit niemand etwas vom Eigentum der zu Ermordeten entwende. | |
| Auch das Gepäck der Familie Fahidi. | |
| Staatsanwalt Jens Lehmann verliest die Anklage. Beihilfe zum Mord in | |
| mindestens 300.000 Fällen wirft er Gröning vor, begangen zwischen dem 29. | |
| April und dem 11. Juli 1944. Die Zahl bezieht sich auf die sogenannte | |
| Ungarn-Aktion, als etwa 425.000 Menschen innerhalb weniger Wochen nach | |
| Auschwitz deportiert wurden. Die Reichsbahn benötigte dafür 137 | |
| Zugtransporte. | |
| ## Er möchte aussagen | |
| Oskar Gröning habe das fortlaufende Tötungsgeschehen unterstützt, sagt | |
| Lehmann, indem er in der Häftlingsgeldverwaltung das Papiergeld sortierte, | |
| das die SS im Gepäck der Todgeweihten gefunden hatte. Er habe die Devisen | |
| in einem Tresor verschlossen und sei von Zeit zu Zeit in das | |
| SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt nach Berlin gefahren, um es dort | |
| abzuliefern. Er habe Dienst an der Rampe geleistet und auch gewusst, dass | |
| die Juden in Auschwitz getötet werden würden. Der Staatsanwalt verliest die | |
| Namen einiger der Ermordeten, darunter die von Eva Pusztai-Fahidis Vater, | |
| der Mutter und ihrer Schwester. | |
| Gröning hat aufmerksam zugehört. Als Richter Franz Kompisch ihn fragt, ob | |
| er zu der Anklage Stellung nehmen wolle, bejaht er dies: „Ich möchte | |
| aussagen“, sagt er mit fester Stimme. Ein NS-Angeklagter, der sich äußern | |
| will – das geschieht höchst selten, eigentlich so gut wie niemals. Es wird | |
| ganz still im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. | |
| Gröning berichtet von seiner Banklehre in Nienburg, von der Waffen-SS, zu | |
| der er sich im Oktober 1940 freiwillig gemeldet habe, einem Lehrgang in | |
| Ellwangen. Manchmal bleibt er in seinen Sätzen hängen und verharrt | |
| sekundenlang, bevor er einen neuen Anlauf nimmt. Sein Anwalt Hans | |
| Holtermann verweist ihn dann vorsichtig auf die schriftliche Erklärung, die | |
| vor ihm auf dem Tisch liegt. | |
| Eva Pusztai-Fahidi hört zu. Sie hat das gehabt, was man eigentlich nicht | |
| Glück nennen kann: Sie wurde von der Rampe in das Sklavenheer geschickt. | |
| Auch das Gros der Zwangsarbeiter ist umgekommen, hat der Staatsanwalt eben | |
| noch referiert. Eva Pusztai-Fahidi hat die Torturen überlebt. Am Tag vor | |
| dem Prozess sagt sie: „Ich habe 49 Menschen in meiner Großfamilie, die | |
| vorbeimarschiert sind, als Gröning dort an der Rampe stand. Was soll er mir | |
| sagen? Ich bin sehr gespannt, was er mir zu sagen hat.“ | |
| Gröning spricht weiter, berichtet davon, wie er zusammen mit anderen | |
| SS-Männern nach Berlin geschickt worden sei, wie ihnen ein | |
| SS-Sturmbannführer erklärt habe, sie erhielten eine neue Aufgabe, „die | |
| Opfer verlangt“. Das Ziel sei der Endsieg. 1942 kam er nach Auschwitz, als | |
| Leiter der Devisenabteilung. Die Vorgesetzten hätten das so entschieden, | |
| schließlich sei er gelernter Bankkaufmann. | |
| Es ist eine verstörende Erklärung. Gröning erzählt vom Zyklon-B-Mord an | |
| Juden, dem er mehr zufällig beigewohnt habe, er vergisst die Schreie der | |
| Opfer nicht, die aus den fest verschlossenen Türen der Gaskammer drangen. | |
| Gröning berichtet von einem Baby, das ein anderer SS-Mann unter dem | |
| zurückgelassenen Gepäck auf der Rampe von Auschwitz gefunden habe. „Ein | |
| SS-Rottenführer nahm das Baby und schlug es gegen einen Lastwagen, bis sein | |
| Schreien aufhörte. Dann warf er es in den Müll.“ Am nächsten Tag habe er, | |
| Gröning, seinen ersten Versetzungswunsch geäußert. | |
| Doch all die Worte, die Gröning spricht, kommen seltsam unbeteiligt aus | |
| seinem Mund, fast so, als sei dies ein einstudiertes Referat für einen | |
| Seniorenkreis der Volkshochschule. Mit der Bedrohung der Häftlinge habe er | |
| nichts zu tun gehabt, versichert Gröning. Einmal, als er einen Schluck | |
| Wasser aus der Plastikflasche nehmen muss, sagt er, in Anspielung auf den | |
| Alkoholkonsum der Wachmannschaften im Vernichtungslager: „Jetzt mach ich’s | |
| wie in Auschwitz und trinke Wodka.“ | |
| Gröning zählt seine Krankheitstage in Kattowitz auf, seine vier | |
| Versetzungsgesuche und dass er sich einem Sondereinsatz, bei dem Juden | |
| direkt getötet werden sollten, durch einen Spaziergang entzogen habe. Dann | |
| sagt er: „An besondere Vorkommnisse in Auschwitz kann ich mich nicht | |
| erinnern.“ | |
| Er, Gröning, so scheint er im Gerichtssaal zu Lüneburg versichern zu | |
| wollen, sei zwar bei der SS in Auschwitz gewesen, aber er habe sich dort | |
| eigentlich nichts zuschulden kommen lassen. Und nach dem Krieg? Da habe er | |
| „zwei- oder dreimal gegen meine Kameraden aussagen müssen“, den Holocaust | |
| nie geleugnet, sondern im Gegenteil freimütig über sein Leben berichtet. | |
| ## Lüneburg 1945 | |
| Die Frage ist: Beging auch derjenige Beihilfe zum Mord, der in Auschwitz | |
| zwar niemanden persönlich umgebracht hat, aber mit seiner Arbeit doch dazu | |
| beitrug, dass etwa eine Million Menschen dort getötet wurden? | |
| Jahrzehntelang hat die bundesdeutsche Justiz dies verneint und ein | |
| individuelles Mordmerkmal für eine Verurteilung verlangt. Ein übergroßer | |
| Teil der mehr als 6.000 SS-Männer und -Frauen, die in Auschwitz Dienst | |
| taten, durfte deshalb im eigenen Bette sterben. Auch Gröning ist lange | |
| davongekommen. Einen „Gedenktag der Versäumnisse“ nennt Christopher Heubner | |
| von Internationalen Auschwitz-Komitee deshalb den Prozess, und | |
| Nebenklage-Vertreter Cornelius Nestler erklärt: „Gröning sagt, er habe sich | |
| nicht selbst schuldig gemacht. Aber es ist juristisch nicht wichtig, ob er | |
| selbst Blut an den Händen gehabt hat.“ | |
| Am Ende erklärt Gröning, er sei „moralisch mitschuldig“, dazu „bekenne … | |
| mich auch hier.“ Er bitte um Vergebung. Zum Gericht sagt er als Letztes: | |
| „Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden.“ | |
| Vorher, bei seiner Ankunft in Lüneburg, hatte das noch etwas anders | |
| geklungen. Bedrängt von Fragen der wartenden Journalisten, was er von | |
| seinem Prozess denn erwarte, sagte er nur ein Wort: „Freispruch!“ | |
| Eva Pusztai-Fahidi, die Auschwitz-Überlebende, sitzt in der zweiten | |
| Reihe,hinter den Anklägern. War es das, was sie von Oskar Gröning hören | |
| wollte? Erregt antwortet sie: „Er behauptet, er sei unschuldig. Er har | |
| nichts gelernt.“ | |
| Schon einmal hatte sich in Lüneburg die Weltpresse versammelt, weil | |
| mutmaßliche Nazi-Verbrecher vor Gericht standen. Das war im September 1945, | |
| nur wenige Monate nach dem Ende des Regimes. Im „Belsen Trial of Josef | |
| Kramer and 44 others“ ging es gegen die Verantwortlichen des | |
| Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Damals saßen 21 Frauen und 24 Männer | |
| vor einem britischen Militärgericht, und alle 45 plädierten „nicht | |
| schuldig“. Am 17. November 1945 erfolgte das Urteil in diesem allerersten | |
| NS-Kriegsverbrecherprozess der Geschichte, darunter 19 Haftstrafen und elf | |
| Todesurteile. | |
| Wenn schon das erste Nazi-Verfahren in Lüneburg stattfand - der Prozess | |
| gegen Oskar Gröning wird wohl eine der letzten juristischen | |
| Auseinandersetzungen in dem unendlichen Tatkomplex nationalsozialistischer | |
| Verbrechen sein. | |
| Welche Strafe wäre wohl angemessen für einen Greis, angeklagt der | |
| dreihunderttausendfachen Beihilfe zum Mord, begangen vor 71 Jahren? Das, | |
| sagt die 89-Jährige Eva Pusztai-Fahidi, sei nicht so wichtig: „Es geht | |
| nicht um Rache. Es geht weniger um die Strafe, es geht um das Urteil. Das | |
| bleibt für die Ewigkeit.“ | |
| 21 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
| ## TAGS | |
| SSW | |
| Holocaust | |
| Konzentrationslager | |
| Auschwitz | |
| Lüneburg | |
| Nazis | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Auschwitz-Prozess | |
| SS | |
| 70 Jahre Befreiung | |
| Oskar Gröning | |
| 70 Jahre Befreiung | |
| John Demjanjuk | |
| Kriegsverbrechen | |
| Vernichtungslager | |
| Konzentrationslager | |
| Aufarbeitung | |
| ZDF | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Konzentrationslager im Kolonialismus: Täler der Verzweiflung | |
| Gibt es eine klare Linie der Kontinuität von Windhuk über Pretoria bis | |
| Auschwitz? Nein, sagt der Historiker Jonas Kreienbaum. | |
| Kommentar Urteil im Auschwitz-Prozess: Ein Vorbild in Rechtsstaatlichkeit | |
| Stets scheute die Justiz die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen. Mit dem | |
| Urteil gegen Oskar Gröning ist damit jetzt Schluss. Endlich. | |
| Auschwitz-Prozess in Lüneburg: Anklage fordert dreieinhalb Jahre Haft | |
| Ein ehemaliger SS-Mann gestand im Prozess, sich an den Opfern des KZs | |
| bereichert zu haben. Ein Großteil der Strafe soll aber als bereits verbüßt | |
| betrachtet werden. | |
| Auschwitz-Prozess in Lüneburg: „Der Terror hat mich aufgefressen“ | |
| Die 84 Jahre alte Susan Pollack berichtet vor dem Landgericht von ihren | |
| Qualen in Auschwitz. Sie überlebte, weil sie an der Rampe log. | |
| 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Schwindende Zeitgenossenschaft | |
| Mit ihren Erinnerungen berühren die noch übriggebliebenen „jungen | |
| Überlebenden“ die Nachgeborenen. Das Ende solcher Begegnungen ist in Sicht. | |
| Auschwitz-Prozess in Lüneburg: Wegen Krankheit unterbrochen | |
| Die Verhandlung gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ fand nicht statt. | |
| Gröning fühlte sich nicht gut. Noch ist unklar, wann es weitergehen kann. | |
| 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Der Nazi im Familienalbum | |
| Ob das Foto von Opa in SS-Uniform noch im Album klebt oder eine Leerstelle | |
| hinterlassen hat – es verbindet uns wie eine Nabelschnur mit der | |
| NS-Realität. | |
| Lüneburger Auschwitz-Prozess: Überlebende wollen nicht verzeihen | |
| Im Lüneburger Auschwitz-Verfahren wenden sich 49 Nebenkläger gegen eine | |
| Überlebende. Sie hat dem Angeklagten pauschal verziehen. | |
| Noch kein Prozess gegen Nazi-Offizier: Staatsanwalt bei SS zögerlich | |
| Ein SS-Offizier, der für Massaker in Italien verantwortlich sein soll, | |
| wurde nicht angeklagt. Die Staatsanwaltschaft will mehr | |
| Gesundheitsgutachten. | |
| Prozess in Lüneburg: Kassenwart redet über Auschwitz | |
| Im Auschwitz-Verfahren schildert der Angeklagte Gröning den Dienst an der | |
| Rampe. Sein Lagerleben sei das eines gewöhnlichen Buchhalters gewesen. | |
| Auschwitz-Prozess in Lüneburg: „Ich habe den Nazis vergeben“ | |
| Eine Überlebende des KZ Auschwitz hat dem Angeklagten SS-Mann Oskar Gröning | |
| die Hand gereicht. Aber ihre Vergebung spreche die Täter nicht frei. | |
| NS-Aufarbeitung in Hamburg: Ermittlungen gegen SS-Aufseherin | |
| In Hamburg laufen erstmals Ermittlungen gegen eine ehemalige SS-Aufseherin, | |
| die an einem Todesmarsch beteiligt gewesen sein soll. Die streitet alles | |
| ab. | |
| Spielfilm über die Nürnberger Prozesse: Das unheimliche Haus | |
| Am Rande der Nürnberger Prozesse: Nazis und frühere KZ-Häftlinge wohnten in | |
| einer Villa. Matti Geschonneck hat „Das Zeugenhaus“ verfilmt. | |
| Ingo Müllers Buch „Furchtbare Juristen“: Norm und Recht | |
| „Furchtbare Juristen“ – Ingo Müllers Standardwerk über die NS-Justiz und | |
| deren Nachwirkungen – ist in wesentlich erweiterter Form neu erschienen. | |
| Montagsinterview: 10 Jahre Jüdisches Museum: "Normal - was heißt das schon?" | |
| Seit seiner Eröffnung vor zehn Jahren hat sich das Jüdische Museum zum | |
| Besuchermagneten entwickelt. Programmdirektorin Cilly Kugelmann betont, | |
| dass man kein Holocaust-Museum sei. | |
| NS-Vergangenheit: Eine Stadt erinnert sich | |
| Lange tat sich die niedersächsische Stadt Celle schwer mit ihrer | |
| NS-Vergangenheit. Nun liegt eine neue Studie vor, die das Massaker an | |
| KZ-Häftlingen vom 8. April 1945 untersucht – und erstmals Namen nennt. In | |
| Celle war das lange undenkbar. |