# taz.de -- Auschwitz-Prozess in Lüneburg: „Der Terror hat mich aufgefressen… | |
> Die 84 Jahre alte Susan Pollack berichtet vor dem Landgericht von ihren | |
> Qualen in Auschwitz. Sie überlebte, weil sie an der Rampe log. | |
Bild: Hier starben über eine Million Menschen: das ehemalige Konzentrationslag… | |
LÜNEBURG taz | „Wir wurden komplett entmenschlicht“, erzählt die | |
Auschwitz-Überlebende mit leiser Stimme. „Der Terror hat mich | |
aufgefressen.“ Im großen Saal der Ritterakademie, in dem das Landgericht | |
Lüneburg verhandelt, herrscht angespannte Stille. Nur die wohl abgewogenen | |
Worte von Susan Pollack und die Übersetzung des Dolmetschers ist zu hören. | |
Das sind Sätze, die schwer wiegen im Verfahren gegen den ehemaligen | |
SS-Unterscharführer Oskar Gröning. Dem 93-Jährigen wird Beihilfe zum Mord | |
in mindestens 300.000 Fällen während der sogenannten Ungarn-Aktion im | |
Sommer 1944 vorgeworfen. Gröning hatte sich zu Prozessbeginn [1][moralisch | |
mitschuldig bekannt.] | |
Die 84 Jahre alte Susan Pollack war am Morgen aus London angereist. Nach | |
bisheriger Gerichtsplanung ist sie die letzte Überlebende, die aussagen | |
soll. Fast fürsorglich führte sie Anwalt Thomas Walther zur Zeugenbank. | |
Pollack war eine von rund 425.000 Jüdinnen und Juden, die vom 29. April bis | |
zum 11. Juli 1944 aus Ungarn nach Auschwitz deportiert wurden. | |
Wann genau das passierte, erinnerte sie vor Gericht nicht mehr. Mit ihren | |
Eltern und ihrem zwei Jahre älteren Bruder war sie zuvor in ein Ghetto | |
eingesperrt worden. „Wir hofften auf eine Umsiedlung.“ Die damals | |
14-Jährige musste in einen Viehwaggon einsteigen, Stroh lag auf dem Boden, | |
ein Eimer war das Klo. Da wusste sie: „Das ist keine Umsiedlung.“ | |
## Sie erzählt nüchtern | |
Bei der Fahrt starben Menschen, Kinder schrien. Ihr Vater war da schon | |
nicht mehr bei ihr. „Die Nazis haben ihn zuvor interniert“, erzählte sie | |
vor Gericht. Sie vermutet, dass er später auch nach Auschwitz gebracht | |
wurde und dort starb. | |
Nüchtern erzählt Pollack das Erduldete. Es lasse sie nicht los, sagt sie, | |
aber es solle ihr „Leben nicht bestimmen“. Mehr als 50 Angehörige verlor | |
sie. Als sie auf der Rampe in Auschwitz stand, sagte ein Inhaftierter, sie | |
solle bloß nicht sagen, dass sie jünger sei als 15. „Ich wusste sofort, | |
dass das Gaskammern waren.“ Als ein Nazi sie nach dem Alter fragte, | |
antwortete sie: „15“. Er schickte sie zur Seite, hin zu den Baracken, nicht | |
zu den Gaskammern. Dort starb ihre Mutter. | |
„Der Terror hat meine Denkfähigkeit vollkommen blockiert.“ Sie konnte nicht | |
weinen, als sie vom Tod ihrer Mutter erfuhr. „Alle Gefühle hatten mich | |
verlassen.“ Unter scharfen Kommandos musste sie sich gleich nach der | |
Ankunft ausziehen und die Haare scheren lassen. In einer Baracke kämpfte | |
sie mit dem Hunger. Entkräftet musste sie auch vor Josef Mengele nackt | |
aufmarschieren. Er stand erhöht, mit einem Stock sortierte er aus und | |
entschied er über Leben und Tod, berichtet sie. | |
Richter Franz Kompisch lässt sie reden. Er betont, wie froh er über ihre | |
Aussagebereitschaft sei. „Bitte erzählen sie einfach.“ Die Bereitschaft | |
eines deutschen Gerichtes, ihr zuzuhören nach 70 Jahren, mache sie | |
glücklich, sagt sie. Das helfe ihr. | |
## Todesmarsch nach Bergen-Belsen | |
Der Vorsitzende Richter lässt zu, dass sie nicht nur zum Tatkomplex | |
spricht. Zwei Monate war sie in Ausschwitz. Irgendwann wurde sie zur | |
Zwangsarbeit nach Guben verschleppt. Als die Alliierten vorrückten, musste | |
sie an einem der Todesmärsche teilnehmen. Wer nicht weiter konnte, wurde | |
erschossen oder erschlagen. | |
Im KZ Bergen-Belsen kam sie an: „Ein Ort des Todes.“ Überall hätten Leich… | |
gelegen, Seuchen grassierten. Fast tot, „ich konnte nicht mehr gehen“, | |
befreite sie am 15. April 1945 die britische Armee. „Ich wollte nur draußen | |
sterben.“ Durch Zufall hätten britische Soldaten bemerkt, dass sich ihr | |
Köper noch bewegte. | |
Zwanzig Jahre später erfährt sie, dass ihr Bruder überlebte. Die SS hatte | |
ihn gezwungen an einem Sonderkommando teilzunehmen, das die toten Körper | |
von den Gaskammern zu den Krematorien brachte. „Er litt sehr daran“, sagt | |
sie. | |
Beim Berichten schaut Pollack nur einmal kurz am Anfang hinüber zu Gröning | |
– und nickt grüßend. Der Beschuldigte reagiert nicht. Er verschränkt die | |
Arme, hört regungslos zu. Schon bei früheren Aussagen von Überlebenden | |
verzog der gelernte Sparkassenangestellte keine Miene. | |
## Gutes Zeugnis von der SS | |
Seit dem 21. April muss sich der ehemalige SS-Mann vor Gericht | |
verantworten. Die Staatsanwaltschaft Hannover wirft ihm vor, vom 28. | |
September 1942 bis zum 16. Oktober 1944 in Auschwitz als Buchhalter Geld | |
aus dem Gepäck der Deportierten an der Bahnrampe genommen und an die SS in | |
Berlin weitergeleitet zu haben. | |
In der vergangenen Woche musste die Verhandlung wegen des gesundheitlichen | |
Zustandes des Beschuldigten unterbrochen werden. Drei Stunden darf nun ein | |
Verhandlungstag dauern. „Natürlich wäre meinem Mandaten lieber, wenn es gar | |
kein Verfahren gegeben hätte“, sagt sein Verteidiger Hans Holtermann. Aber | |
nun wolle er sich auch dem Verfahren stellen. | |
Vor der Aussage Pollacks hatte Kompisch ein altes Dienstleistungszeugnis | |
Grönings vorgelesen. Jener habe seine Tätigkeit „mit Fleiß und Sorgfalt“ | |
erledigt, bescheinigte ihm ein SS-Vorgesetzter damals. „Sein soldatisches | |
Auftreten war stramm und korrekt.“ | |
13 May 2015 | |
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[1] /Auschwitz-Prozess-in-Lueneburg/!158577/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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