# taz.de -- Kommentar Urteil im Auschwitz-Prozess: Ein Vorbild in Rechtsstaatli… | |
> Stets scheute die Justiz die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen. Mit | |
> dem Urteil gegen Oskar Gröning ist damit jetzt Schluss. Endlich. | |
Bild: Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen: Gröning am Mittwoch nach dem Urtei… | |
Es ist nicht wichtig, ob der zu vier Jahren Haft verurteilte 94-Jährige | |
Oskar Gröning auch tatsächlich ins Gefängnis kommen wird. Wichtig ist | |
[1][das Urteil] an sich. Das Landgericht Lüneburg hat an diesem Mittwoch | |
Rechtsgeschichte geschrieben – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. | |
Das Urteil hat Schluss gemacht mit einer jahrzehntelang geübten | |
juristischen Praxis, nach der im Falle von nationalsozialistischen Tätern | |
eine Beihilfe zum Mord nur dann als strafbar galt, wenn dem Betroffenen ein | |
individueller Mord nachgewiesen werden konnte. Weil aber genau das in einem | |
NS-Vernichtungslager wie Auschwitz kaum nachweisbar war und ist – | |
schließlich waren fast alle potenziellen Zeugen der Mordmaschine zum Opfer | |
gefallen – gingen Tausende der sogenannten Direkttäter in der | |
Bundesrepublik straffrei aus. Diese juristische Praxis war einerseits | |
bequem, sparte sie der Justiz doch eine Menge Verfahren nebst bohrender | |
Nachfragen. | |
Andererseits manifestierte sie himmelschreiendes Unrecht. Wer das | |
Einbruchswerkzeug für einen Bruch besorgt, ist selbstverständlich | |
mitschuldig, genau wie derjenige, der einen zum Mord entschlossenen | |
Menschen so lange verbirgt, bis dieser seine Tat ausführen kann. | |
Nur für die Täter in NS-Vernichtungslagern, wo der Mord industriemäßig | |
durchgeführt worden ist, sollte diese Regelung nicht gelten – nicht für die | |
Besatzungen auf den Wachttürmen, nicht für die Schreibtischhengste, schon | |
gar nicht für die Lokomotivführer, die ihre menschliche Fracht in Auschwitz | |
oder Treblinka ablieferten. | |
## Willfähige Mediziner und lahme Staatsanwälte | |
Damit immerhin ist jetzt Schluss. Dabei war die Weigerung der Justiz, | |
Beihilfe zum Mord auch als solche vor Gericht zu bringen, nur eine Facette, | |
um eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen zu verweigern. Man denke | |
nur an den angeblichen „Befehlsnotstand“, nach dem die Täter angeblich | |
gezwungen waren zu morden, um nicht selbst von ihren Vorgesetzten getötet | |
zu werden. Historiker haben mit dieser Geschichtsklitterung längst | |
aufgeräumt. Wer sich weigerte zu töten, lief allenfalls Gefahr, | |
strafversetzt zu werden, oft aber nicht einmal das. | |
Das Verfahren gegen Oskar Gröning war ein Vorbild an Rechtsstaatlichkeit. | |
Nur zu gerne bemühten sich Gerichte, ein NS-Verfahren schon vor Beginn | |
eines Prozesses im Sande verlaufen zu lassen – etwa durch so schleppende | |
Ermittlungen, bis der Angeklagte nicht mehr prozessfähig oder verstorben | |
war. Mit Eifer betrieben manche Verteidiger eine Verschleppung des | |
Verfahrens. Viel zu häufig fanden sich willfähige Mediziner, die den Tätern | |
bescheinigten, kurz vor dem Herztod zu stehen – manche dieser Männer | |
durften danach noch jahrzehntelang ihren Lebensabend genießen. Es gab lahme | |
Staatsanwälte, allzu verständnisvolle Richter, ermattete Nebenkläger, vor | |
allem aber Angeklagte, die alles, aber auch alles abstritten (was ihr gutes | |
Recht war). | |
## Der Dank gilt den Nebenklägern und Überlebenden | |
Nichts von alledem in Lüneburg. Oskar Gröning bestritt seine Tatbeteiligung | |
nicht, wenn er sie auch nicht als strafbewehrt betrachtete. Das Landgericht | |
versuchte nicht, das Verfahren loszuwerden. | |
Vor allem aber gilt den Nebenklägern Dank, die durch ihre beharrliche | |
Arbeit das Verfahren überhaupt erst in Gang gesetzt haben – allen voran | |
Thomas Walther. Besonderer Respekt aber gilt den Auschwitz-Überlebenden, | |
die in Lüneburg Zeugnis über die Verbrechen abgelegt haben. | |
Ein Prozess wie in Lüneburg hätte vor 50 Jahren nicht nur Rechtsgeschichte | |
geschrieben, er wäre Beginn einer Flut weiterer Verfahren gegen NS-Täter in | |
Vernichtungslagern geworden. Das ist heute, 70 Jahre nach Ende des | |
NS-Regimes nicht mehr möglich. Nahezu alle mutmaßlichen Täter sind längst | |
verstorben, unbestraft versteht sich. | |
Gerade zwei Verfahren sind derzeit noch in Deutschland anhängig, doch es | |
bleibt angesichts des Alters der Beschuldigten abzuwarten, ob daraus auch | |
Prozesse werden. Die juristische Auseinandersetzung mit den | |
NS-Massenverbrechen geht seinem Ende entgegen. Umso wichtiger, dass dieses | |
Ende mit einer deutlichen Klarstellung einhergeht. | |
15 Jul 2015 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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