| # taz.de -- NS-Prozesse und die Verjährung der Taten: Zu spät | |
| > Im Juli ist ein 94-jähriger ehemaliger SS-Mann verurteilt worden. Der | |
| > Historiker Frank Bajor über die Frage, warum vielen der Prozess gar nicht | |
| > erst gemacht wurde. | |
| Bild: In Lüneburg wegen Beihilfe zu vier Jahren Gefängnis verurteilt: ehemali… | |
| HAMBURG taz | Als das Landgericht Lüneburg im Juli den ehemaligen | |
| SS-Unterscharführer Oskar Gröning, der von 1942-1944 in Auschwitz Dienst | |
| getan hatte, zu vier Jahren Gefängnis wegen Beihilfe zum Mord verurteilte, | |
| mochten sich viele Beobachter gefragt haben: „Warum erst heute? Warum noch | |
| heute? Wie lange noch?“ | |
| Fragen dieser Art haben die seit nunmehr 70 Jahren andauernde | |
| Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen durch deutsche | |
| Gerichte seit Langem begleitet. Die drei zitierten Fragen: „Warum erst | |
| heute? Warum noch heute? Wie lange noch?“ stammen denn auch aus dem Jahre | |
| 1972, damals aufgeworfen von Adalbert Rückerl, dem langjährigen Leiter der | |
| 1958 eingerichteten Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer | |
| Verbrechen in Ludwigsburg. | |
| ## Das schiere Ausmaß der Massenverbrechen | |
| Einer der Gründe für die Zeitverzögerung lag und liegt natürlich in dem | |
| schieren Ausmaß und der Präzedenzlosigkeit nationalsozialistischer | |
| Massenverbrechen. Nach den Ergebnissen der historischen Forschung waren | |
| allein am Holocaust mindestens 200.000 bis 250.000 deutsche und | |
| österreichische Täter beteiligt: darunter vor allem Angehörige der | |
| Einsatzgruppen, Polizeibataillone, Einheiten von Wehrmacht und Waffen-SS, | |
| das Personal in den Vernichtungslagern, aber auch Verwaltungsangehörige in | |
| der Zivilverwaltung der besetzten Ostgebiete. | |
| Insgesamt sind jedoch von westdeutschen Gerichten seit 1945 nur gut 6.650 | |
| Personen wegen NS-Verbrechen verurteilt worden, von denen überdies nur | |
| jeder Zehnte zu den Holocaust-Tätern gerechnet werden kann. Mehr als 90 | |
| Prozent der Personen waren bereits zwischen 1945 und 1954 verurteilt | |
| worden; danach verebbte der anfänglich noch breite Strom der Verurteilungen | |
| zu einem bedeutungslosen Rinnsal. Wie ist diese insgesamt beschämende | |
| Bilanz zu erklären? | |
| ## Effektive Strafjustiz behindert | |
| Letztlich waren es vor allem drei Gründe, die eine effektive | |
| Strafverfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen behindert haben. | |
| Erstens fehlte es der Justiz in den ersten Nachkriegsjahrzehnten an | |
| detaillierten Kenntnissen über die vor allem außerhalb des deutschen | |
| Staatsgebietes verübten Verbrechen. | |
| Der schon erwähnte Adalbert Rückerl hatte nicht zu Unrecht darüber geklagt, | |
| dass die Justiz mit der mühsamen Ermittlungsarbeit letztlich allein | |
| gelassen worden sei und viele Staatsanwälte deshalb Pionierarbeit in Sachen | |
| Holocaust-Forschung leisten mussten. Unter den Historikern gab es nämlich | |
| lange Zeit nur eine Handvoll Kollegen, etwa im Münchner Institut für | |
| Zeitgeschichte, die überhaupt in der Lage waren, Staatsanwälten und | |
| Gerichten kompetent Auskunft zu geben. | |
| Zweitens ermittelten die Staatsanwaltschaften auch gegen den Widerstand | |
| einer „Schluss-Strich-Mentalität“, die in der deutschen Bevölkerung weit | |
| verbreitet war. So sprach sich im Jahre 1975 nur jeder vierte Deutsche | |
| zugunsten weiterer Prozesse gegen NS-Verbrecher aus. Die Politik | |
| verweigerte zwar eine vielfach geforderte „Generalamnestie“ und ermöglichte | |
| auch die andauernde Strafverfolgung von NS-Gewaltverbrechen, indem sie 1979 | |
| in einer denkwürdigen Bundestagsentscheidung die Unverjährbarkeit von Mord | |
| festschrieb. | |
| ## Gesellschaftliche Re-Integration | |
| Allerdings stellte auch die Politik die gesellschaftliche Re-Integration | |
| vieler Täter und Belasteter letztlich nicht in Frage und begrenzte die | |
| Ermittlungsmöglichkeiten der Justiz: durch Teil-Amnestien wie den | |
| „Straffreiheitsgesetzen“ von 1949 und 1954, aber auch durch mangelnde | |
| Intervention gegen Verjährungsfristen, die beispielsweise eine | |
| Strafverfolgung wegen Körperverletzung mit Todesfolge oder schwerer | |
| Freiheitsberaubung seit 1955, wegen Totschlags seit 1960 nicht mehr | |
| erlaubten. | |
| Als größtes Manko der Strafverfolgung erwies sich jedoch drittens, dass die | |
| deutschen Gerichte NS-Gewaltverbrechen mit einem traditionellen, auf die | |
| Ahndung „gewöhnlicher“ Kriminalität ausgerichteten Strafrecht verfolgen | |
| mussten – anders als die Gerichte der Alliierten, die 1945 mit den „Crimes | |
| against Humanity“ einen Straftatbestand im Völkerrecht verankert hatten, | |
| der ihnen eine effektive Aburteilung ermöglichte. Das stark nach | |
| individuellen Tatmotiven fragende deutsche Strafrecht verfehlte hingegen | |
| die Handlungssituation vieler NS-Täter, die nicht als Einzeltäter, sondern | |
| in einem sozialen Zusammenhang gemordet hatten. | |
| Im Ergebnis wurden deshalb viele Täter als „Tatgehilfen“ eingestuft und | |
| lediglich wegen Beihilfe zum Mord verurteilt: So zum Beispiel Otto | |
| Bradfisch, Führer des Einsatzkommandos 8 der Einsatzgruppe B, der für die | |
| Erschießung von 15.000 Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen unmittelbar | |
| verantwortlich war. Das Landgericht München verurteilte ihn 1961 lediglich | |
| wegen Beihilfe, da ihm ein entsprechender „Täterwille“ gefehlt habe. | |
| Zudem bestand der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung auf einem | |
| konkreten Einzeltatnachweis gegenüber den Beschuldigten, der in vielen | |
| Fällen nicht zu leisten war: Ermordete standen als Zeugen ja nicht mehr zur | |
| Verfügung, und die Tatbeteiligten hielten untereinander „dicht“. | |
| ## „Funktionelle Mitwirkung“ | |
| Die Rechtsprechung des BGH hatte jedoch einzelne deutsche Gerichte nicht | |
| daran gehindert, das Personal in Lagern wie Sobibór oder Majdanek, die | |
| einem expliziten Vernichtungszweck dienten, wegen „funktioneller | |
| Mitwirkung“ zu verurteilen. | |
| Anders als vielfach behauptet, markiert deshalb das Urteil des Landgerichts | |
| München, das den in Sobibór tätigen Iwan Demjanjuk 2011 ohne | |
| Einzeltatnachweis zu fünf Jahren Haft verurteilte, keineswegs ein | |
| juristisches Novum. Entsprechenden Willen vorausgesetzt, hätte das Personal | |
| in Vernichtungslagern bereits sehr viel früher und in größerem Umfang | |
| abgeurteilt werden können. Allerdings ebnete das Demjanjuk-Urteil weiteren | |
| Ermittlungsverfahren und dem Gröning-Prozess atmosphärisch den Weg. | |
| Auch wenn die Gesamtbilanz der Strafverfolgung von NS-Gewaltverbrechen mehr | |
| als problematisch ausfällt, so ist doch positiv hervorzuheben, dass die | |
| justiziellen Aufarbeitungsbemühungen nie aufhörten und die Verbrechen darum | |
| auch nicht mit dem Mantel des Schweigens bedeckt wurden. Und auch wenn die | |
| meisten Täter nie verurteilt wurden: Sie mussten und müssen bis an ihr | |
| Lebensende zumindest befürchten, doch noch zur Rechenschaft gezogen zu | |
| werden. | |
| Den ganzen Schwerpunkt über die Nazi-Prozesse und die Frage der Verjährung | |
| lesen Sie in der gedruckten Norddeutschland-Ausgabe der taz.nord oder | |
| [1][hier]. | |
| 29 Aug 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] /e-Paper/Abo/!p4352/ | |
| ## AUTOREN | |
| Frank Bajor | |
| ## TAGS | |
| Oskar Gröning | |
| Auschwitz-Prozess | |
| Auschwitz | |
| Verjährung | |
| Auschwitz-Prozess | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| NSDAP | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Auschwitz-Prozess | |
| Oskar Gröning | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Auschwitz-Prozess in Detmold: Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen | |
| In Detmold steht ein ehemaliger SS-Wachmann des KZ Auschwitz vor Gericht. | |
| Der Angeklagte streitet eine Beteiligung an Mord ab. | |
| Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen: Weltweit Interesse für NS-Prozesse | |
| Aktuell gibt es zwölf Vorermittlungsverfahren, sagt Chefermittler Jens | |
| Rommel. Die Aufarbeitung habe auch Modellcharakter für Staaten wie | |
| Südkorea. | |
| Historikerbericht über NSDAP-Mitglieder: Nazis in Nachkriegsministerien | |
| Wie viele Nazis ihre politische Karriere nach 1945 weiterverfolgten, wurde | |
| nun fürs Innenministerium nachgewiesen. Teilweise lag der Anteil bei 66 | |
| Prozent. | |
| Autorin Peggy Parnass über NS-Prozesse: „Der Hass ist geblieben“ | |
| Vor 50 Jahren endete der erste Auschwitz-Prozess, im Juli der wohl letzte. | |
| Peggy Parnass, deren Eltern im KZ ermordet worden, ist wütend, dass es nur | |
| so wenige gab. | |
| Urteile über NS-Verbrechen: Auschwitz vor Gericht | |
| Klarer Fall von Unwillen in Jusitz und Politik: Lange fehlten die | |
| Rechtsgrundlagen, um die Verbrechen von Auschwitz zu bestrafen. | |
| Kommentar Urteil im Auschwitz-Prozess: Ein Vorbild in Rechtsstaatlichkeit | |
| Stets scheute die Justiz die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen. Mit dem | |
| Urteil gegen Oskar Gröning ist damit jetzt Schluss. Endlich. | |
| Überlebende im Auschwitz-Prozess: Das Vergangene ist nicht vergangen | |
| Im Prozess berichteten Überlebende von ihrem Leid. Oft zum ersten Mal vor | |
| einem deutschen Gericht. Mit großen Zweifeln, doch es hat ihnen geholfen. | |
| Urteil Auschwitz-Prozess in Lüneburg: Vier Jahre Haft für Gröning | |
| Oskar Gröning gilt als „Buchhalter von Auschwitz“. Das Landgericht Lünebu… | |
| hat nun den früheren SS-Mann zu vier Jahren Haft verurteilt. |