# taz.de -- Urteile über NS-Verbrechen: Auschwitz vor Gericht | |
> Klarer Fall von Unwillen in Jusitz und Politik: Lange fehlten die | |
> Rechtsgrundlagen, um die Verbrechen von Auschwitz zu bestrafen. | |
Bild: Angehörige des SS-Bewachungspersonals vor dem Frankfurter Schwurgericht … | |
Im Juli 2015, 70 Jahre nach der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen, | |
[1][hatte sich Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg zu verantworten.] | |
Über viele Jahrzehnte lang war die Justiz in Sachen Auschwitz untätig | |
geblieben. Die Ahndung des in Auschwitz verübten Menschheitsverbrechens ist | |
alles andere als eine bundesdeutsche Erfolgsgeschichte. | |
Der späte Prozess gegen einen altersschwachen Angeklagten lenkt freilich | |
den Blick auf das Frankfurter Auschwitz-Urteil, das sich im August 2015 zum | |
50. Mal jährt und notwendig auf die historisch und rechtlich zu | |
beantwortende Frage, was Auschwitz war. | |
Auf Befehl Himmlers errichtete die SS 1939/1940 Konzentrationslager in | |
annektierten Gebieten des erweiterten Deutschen Reichs. Die Internierung | |
von politischen Gegnern war das Ziel. In Polen verhafteten die deutschen | |
Besatzer Menschen, die des Widerstands verdächtigt waren. Die Deutschen | |
strebten die Dezimierung und Ausschaltung von Polens Elite an. | |
Auschwitz diente seit Juni 1940 als Lager für inhaftierte Polen. Anfang | |
1942, die systematische Vernichtung der Juden in den besetzten Gebieten der | |
Sowjetunion hatte eingesetzt, begann der Auschwitzer Kommandant, Rudolf | |
Höß, mit der Errichtung von Vernichtungsanlagen. | |
Bereits im Herbst 1941 hatten er und seine Mörder Erfahrungen mit der | |
Vernichtung von Menschen gesammelt. Sogenannte Probevergasungen mit Zyklon | |
B wurden durchgeführt und ein Raum unmittelbar neben den Verbrennungsöfen | |
als Gaskammer genutzt. Der Umbau von zwei Bauernhäusern in | |
Vergasungsstätten sowie seit Mitte 1942 der Bau von vier Krematorien samt | |
Gaskammern schufen ein Todeslager inmitten des KZ-Komplexes. | |
## Mord nach Dienstplan | |
Im Unterschied zu den sogenannten reinen Vernichtungslagern der „Aktion | |
Reinhardt“ in Treblinka, Sobibór und Bełżec und zum Gaswagenlager Chełmno | |
im annektierten Warthegau, wurden Juden aus ganz Europa nach Auschwitz | |
nicht allein zum Zweck ihrer sofortigen Vernichtung verbracht. | |
Von den beiden Rampen in Auschwitz – die alte lag am Güterbahnhof, die neue | |
ab Mai 1944 inmitten des Lagers Birkenau – gab es zwei Wege für die | |
deportierten Juden: den direkten Weg ins Gas und den Weg zur Vernichtung | |
durch Arbeit ins Lager. | |
In tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht hatte der Tod in Auschwitz | |
viele Gesichter. Lagerinsassen wurden erschlagen, erhängt, erschossen, im | |
Häftlingskrankenbau „abgespritzt“. Sie starben den Hungertod im | |
Lagergefängnis, fielen Selektionen im Krankenrevier, im Block sowie bei | |
Appellen, beim Ein- und Ausmarsch ins beziehungsweise aus dem Lager zum | |
Opfer. | |
Die SS-Männer mordeten eigenmächtig oder auf Befehl. Es waren meist | |
Einzeltötungen. Manchmal gingen die Opfer bei Selektionen in die Hunderte. | |
Im Falle der mit Zügen der Deutschen Reichsbahn nach Auschwitz deportierten | |
Juden handelten alle an der „Abwicklung“ von Transporten beteiligten | |
SS-Leute nach Dienstplan, mithin auf Befehl. | |
Da der Befehl, die angekommenen Juden entweder zu töten oder als | |
„arbeitsfähig“ ins Lager einzuweisen, für alle Tatbeteiligten unschwer als | |
verbrecherisch zu erkennen war, traf die gehorchenden Befehlsausführenden | |
die Strafe des Teilnehmers (zum Beispiel des Tatgehilfen). | |
## Nur durch das Zusammenwirken lief die Todesmaschinerie | |
Der ganze Vernichtungsapparat wurde bei „Transportabfertigungen“ in Gang | |
gesetzt. Fernschreiben über die Ankunft von Todeszügen reichte die | |
Kommandantur an die einzelnen Abteilungen weiter. Lastkraftwagen fuhren zur | |
Rampe, um die Juden zu den Gaskammern zu transportieren. | |
SS-Ärzte und Angehörige der Politischen Abteilung sowie der Lagerführung | |
begaben sich zu den Zügen, um die Selektionskommission zu bilden. | |
Mitglieder der Wachkompanien bildeten eine Postenkette. Ein | |
Sanitätskraftwagen brachte Zyklon B zu den Gaskammern. Der mit einer | |
Gasmaske ausgerüstete SS-Mann schüttete unter Aufsicht eines SS-Arztes das | |
Giftgas in die Räume. | |
Die Einzelakte eines jeden Akteurs standen in unmittelbaren Zusammenhang | |
und stellten ein zusammenhängendes, einheitliches Tun dar. Nur durch das | |
bewusste und gewollte Zusammenwirken aller SS-Angehörigen lief die | |
Todesmaschinerie von Auschwitz reibungslos. Alle diensthabenden SS-Leute | |
leisteten routiniert und geschäftsmäßig ihre Tatbeiträge zur Haupttat, zur | |
Judenvernichtung. | |
Das Frankfurter Schwurgericht war im Urteil vom August 1965 der Auffassung, | |
den einzelnen Angeklagten müsse ihre Beteiligung an den | |
Vernichtungsaktionen durch die zweifelsfreie Zurechnung von konkreten | |
Einzeltaten nachgewiesen werden. | |
So reichte es den Richtern nicht aus, dass ein SS-Arzt Rampendienst | |
geleistet hatte. Die Zugehörigkeit zur Selektionskommission und somit die | |
Anwesenheit auf der Rampe genügte ihnen nicht. Durch Zeugenaussagen musste | |
zuverlässig und glaubhaft belegt sein, dass ein Angeklagter sich aktiv an | |
den „Aussonderungen“ beteiligt hatte. | |
Obschon im Sommer 1944 Tag und Nacht die Transporte mit Juden aus Ungarn | |
eintrafen, in der Regel 3.000 Menschen in einem Todeszug, und obgleich die | |
Personalknappheit in Auschwitz dazu führte, dass es auf die Mitwirkung | |
eines jeden SS-Führers ankam, um die Transporte „abfertigen“ zu können, | |
erachtete das Schwurgericht die funktionelle Mitwirkung der „SS-Mediziner“ | |
kraft der ihnen zugeteilten Aufgaben nicht als Schuldnachweis. | |
## Ermittlungsverfahren gegen „kleine Handlanger“ eingestellt | |
Im Unterschied zur Auffassung des Gerichts waren der hessische | |
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und die Anklagevertretung der | |
Rechtsauffassung, das Verbrechensgeschehen in Auschwitz sei als eine Tat im | |
Rechtssinne zu betrachten. Wer an einer Funktionsstelle im | |
Vernichtungsapparat tätig gewesen war, leistete auch ohne Nachweis eines | |
konkreten Tatbeitrags zumindest Beihilfe. | |
Die Konsequenz dieser vom Gericht und vom Bundesgerichtshof im Fall | |
Auschwitz verworfenen Rechtsauffassung – im Fall der „reinen“ | |
Vernichtungslager Chełmno, Bełżec, Treblinka und Sobibór kam sie von | |
Landgerichten in Bonn, München I, Düsseldorf und Hagen durchaus zur Geltung | |
– wäre gewesen, Hunderte von SS-Leuten, die die Frankfurter | |
Strafverfolgungsbehörde ermittelt hatte, als Verbrechensbeteiligte zur | |
Rechenschaft zu ziehen. | |
Das Auschwitz-Urteil hatte für die weitere Strafverfolgung von | |
Auschwitz-Tätern verheerende Folgen. Die „Schuld- und Strafaussprüche“ f�… | |
das medizinische Personal führten zum Beispiel dazu, dass die Frankfurter | |
Staatsanwaltschaft im Jahr 1970 unter Verweis auf das „Maßstäbe“ setzende | |
Auschwitz-Urteil die Einstellung von Ermittlungsverfahren gegen als „kleine | |
Handlanger“ qualifizierte SS-Männer beantragte. | |
Im Fall von 14 Angehörigen der Fahrbereitschaft, die Deportierte von der | |
Rampe zu den Gaskammern gefahren hatten, vertrat die Staatsanwaltschaft die | |
Auffassung, ihr Tatbeitrag und ihre Schuld seien im Vergleich zu den | |
selektierenden SS-Führern auf der Rampe gering, von Strafe könne deshalb | |
abgesehen werden. | |
Die bundesdeutsche Justiz war nur in geringen Teilen willens, die | |
NS-Verbrechen zu ahnden. Da der deutsche Gesetzgeber 1949 und in den | |
folgenden Jahren darauf verzichtet hatte, Rechtsgrundlagen zu schaffen, die | |
die tatangemessene Judizierung des Menschheitsverbrechens ermöglicht | |
hätten, ist neben dem Versagen der Justiz auch das Versagen der Politik | |
festzustellen. | |
Die späten Verfahren gegen Greise, die sich wenig aussagewillig geben, sind | |
das beschämende Indiz für eine unzureichende justizielle Aufarbeitung der | |
NS-Vergangenheit. | |
19 Aug 2015 | |
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## AUTOREN | |
Werner Renz | |
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