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# taz.de -- 70 Jahre Potsdamer Konferenz: Die Enkel der Sieger
> Vor 70 Jahren fragten sich die Siegermächte in Potsdam: Wie weiter mit
> Deutschland? Darauf hat auch die heutige Alliierten-Generation eine
> Antwort.
Bild: Der dreifache Händedruck (v. l. n. r.): Winston Churchill, Harry S. Trum…
Angela Merkel mit Hitlerbart und Hakenkreuz-Armbinde, Wolfgang Schäuble in
Wehrmachtsuniform: Die griechischen links- und rechtsradikalen Zeitungen
sind seit Anfang des Jahres voll mit diesen geschmacklosen Karikaturen.
Alexis Tsipras warnte im Februar vor einem „sozialen Holocaust”, sollte es
nicht gelingen, die von Deutschland mitformulierten Sparmaßnahmen
abzuwenden.
Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos verbreitete am
Dienstag auf Twitter ein Bild, dass unter dem hashtag #boycottgermany dazu
aufrief, keine deutschen Produkte vom „4.Reich” mehr zu kaufen. Zwar wurde
der jüngste Deal mit Griechenland von allen 19 Euro-Ländern ausgehandelt,
Deutschland ist laut vieler ausländischer Medien und von der Finanzkrise
gebeutelter EU-Staaten aber hauptverantwortlich für das griechische Leid.
Nicht alle sind der Meinung, dass drastische historische Vergleiche
wirklich zutreffend sind - aber die deutsche Geschichte bietet dann eben
doch einen gern genutzten Resonanzraum. Und jenseits von Nazi-Vergleichen
fragen sich viele Menschen in und außerhalb von Deutschland aber zurzeit
eben doch: Wie kann ein Land, das zwei Weltkriege verursacht hat, es wagen,
die - zumindest symbolisch - führende Rolle in Europa einzunehmen und die
frei gewählte Regierung eines anderen Staates so zu knechten?
Nataliya Schapeler hingegen unterstützt das Vorgehen der Bundesregierung in
der Griechenland-Debatte. „Für mich ist es ein Beweis dafür, dass das
europäische Projekt für Deutschland und Angela Merkel persönlich zu viel
bedeutet, um den anderen zu erlauben, die EU in ein Kasino zu verwandeln”,
sagt Schapeler im Gespräch mit der aktuellen taz.am wochenende. Schapeler
kommt aus der Ukraine, wurde noch zu Zeiten geboren, als ihr Land als
Ukrainische Sozialistische Sowjetrepubklik Teil der UdSSR war. Seit neun
Jahren lebt sie in Deutschland und arbeitet als Politikwissenschaftlerin.
Wir trafen Nataliya Schapeler nicht alleine zum Gespräch, neben ihr luden
wir auch Ryan Harper aus Großbritannien und Catherine Detrow aus den USA
ein. Sie sind die Enkel-Generation der Alliierten, alle drei leben seit
mehreren Jahren in Deutschland, alle haben Großväter oder Großonkel, die im
Krieg gekämpft haben. Detrows Großvater war einer jener Soldaten, die am
D-Day in der Normandie landetedn, Harpers Großonkel und Schapelers Opa sind
als Soldaten im Krieg gefallen – in Deutschland. Nataliya ist heute mit
einem Deutschen verheiratet, Harper und Detrow leben in Berlin. Keiner der
drei „jungen Alliierten” hatte Zweifel daran, nach Deutschland zu ziehen.
„Ich hatte einen hervorragenden Deutschlehrer im Gymnasium, der uns gelehrt
hat, dass Deutsch eine Sprache und eine Kultur ist, die nicht nur aus Nazis
und Bayern besteht”, sagt Harper.
## „Deutschland ein Vorbild in Europa“
Deutschlands Rolle in der EU bewertet sie überraschend positiv. Sie sei das
Ergebnis einer intensiven Befassung mit der eigenen Vergangenheit. „Was die
Aufarbeitung der Geschichte betrifft, ist Deutschland ein Vorbild in
Europa”, findet Schapeler. In der Schule beschäftige man sich gründlich und
ausgiebig mit dem Zweiten Weltkrieg, den Grausamkeiten des Holocaust und
der Verantwortung gegenüber den Opfern eines solchen Verbrechens.
Verantwortung übernehmen, das bedeutet ihrer Ansicht nach auch den
allgemeinen Zugang zu Archiven, die Einrichtung und Pflege von
Gedenkstätten und ein wahrhaftiger Umgang mit der eigenen Geschichte. Und
es ist auch die Verantwortung, sich dem Erhalt von Frieden zu verpflichten.
Schapeler wünscht sich diese Vorgehensweise für ihr eigenes Land und die
anderen Ex-Sowjetstaaten. „Wenn Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion
soviel Verantwortung für die eigene Vergangenheit übernehmen würde wie
Deutschland, dann hätten wir vielleicht weniger Probleme”, sagt sie.
Russland ist der Nachfolgestaat der Sowjetunion, sagt Nataliya ganz
selbstverständlich im Gespräch mit der taz.am wochenende. Wenn prorussische
Separatisten heute in ihrem Heimatland für eine Zusammenführung mit
Russland kämpfen, verwenden sie – genauso wie Wladimir Putin nach der
Einverleibung der Krim im März 2014 – dabei den historischen Begriff
„Noworossija”.
Unter diesem Namen fasste Zarin Katharina die Große den heutigen Osten und
Südosten der Ukraine zusammen – im 18. Jahrhundert. Deutschland ist der
Nachfolgestaat des Dritten Reiches. Jemals wieder irgendetwas zu erobern –
und sich dabei noch auf territoriale Ansprüche aus der Vergangenheit zu
berufen – ist unvorstellbar. Für die internationale Gemeinschaft, aber vor
allem für Deutschland selbst. Woher kommt dieser unterschiedliche Umgang
mit dem eigenen diktatorischen Erbe?
Schapeler verweist wieder auf die Verantwortung. In Deutschland habe sie
ihren Ursprung im Potsdamer Abkommen, dessen Unterzeichnung im Schloß
Cecilienhof durch die alliierten Siegermächte sich in diesen Tagen zum 70.
Mal jährt. Winston Churchill für Großbritannien, der später durch Clement
Attlee ersetzt wurde, Harry S. Truman für die USA und Josef Stalin für die
Sowjetunion trafen sich zu diesem Gipfel und diskutierten nicht nur über
Deutschlands politische und geografische Zukunft, sondern beschlossen auch
eine umfassende „Entnazifizierung” aller Bereiche des öffentlichen Lebens.
## „Entsowjetisierung hat nie stattgefunden“
Die deutsche und österreichische Gesellschaft, Kultur, Presse, Ökonomie,
Jurisdiktion und Politik sollte von allen Einflüssen des
Nationalsozialismus befreit werden. Dazu gehörte auch die strafrechtliche
Verfolgung, Verurteilung und Inhaftierung von Akteuren des NSDAP-Regimes.
Wie erfolgreich dieser Prozess letztendlich war, bleibt strittig. Er dauert
bis heute an. Trotzdem, betont Schapeler, habe es nach Auflösung der
Sowjetunion keinen vergleichbaren Prozess in Russland, der Ukraine, und den
anderen neu entstandenen Staaten gegeben: „Die Entnazifizierung wurde gemäß
der Potsdamer Konferenz in Deutschland umgesetzt. Entsowjetisierung hat in
den entsprechenden Ländern dagegen nie stattgefunden”, sagt sie im
Gespräch.
Die Ukraine hat erst im vergangenen Jahr diesen Prozess eingeleitet, 24
Jahre nach ihrer Unabhängigkeit. Seitdem fallen auch dort die Statuen
ehemals großer Männer, ein paar russische TV-Sender wurden abgeschaltet,
Archive geöffnet. Trotzdem: eine grundlegende wissenschaftliche oder
öffentliche Debatte zur sowjetischen und kommunistischen Vergangenheit gibt
es nicht.
Diese Debatte hat Schapeler auch vermisst, als sie noch in der Ukrainischen
Sozialistischen Sowjetrepublik zur Schule ging. Auf die Frage, wie dort
über Deutschland und den Zweiten Weltkrieg geredet wurde, sagt sie:
„Deutschland wurde nicht unbedingt negativ dargestellt, aber es wurde ein
starker Gegensatz zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und der
Sowjetunion als Bund der Völker und als Siegermacht betont.” Erst nachdem
die Ukraine unabhängig wurde, erfuhren Nataliya und ihre Mitmenschen vom
Hitler-Stalin-Pakt und dass die Sowjetunion und Deutschland bis zum
deutschen Angriff im Jahr 1941 Handelspartner gewesen waren. „All diese
Fakten sind bis heute noch nicht in dem Umfang verarbeitet worden, wie man
sich das wünschen würde.“
Was Ryan, Catherine und Nataliya über Deutschland wussten, bevor sie
hierher zogen, zeigt, dass Geschichte immer konstruiert und durch die
nationale „Brille“ gefärbt ist. Deutsche Kinder, die in England einen
Schüleraustausch machen, wundern sich, warum in englischen
Geschichtsbüchern kein Unterschied zwischen Deutschen und Nazis gemacht
wird, warum im englischen Fernsehen fast jeden Abend eine Sendung über den
Blitzkrieg läuft. Der Sieg über Deutschland wird immer wieder in die
nationale Erinnerung gerufen. In Putins Russland ziehen am 9.Mai – dem
nationalen Gedenktag zur Kapitulation Deutschlands – Menschen, die als
deutsche Kriegsgefangene verkleidet sind, durch die Straßen.
## Statuen von Stalin und Mao
Zum 70. Holocaust-Gedenktag im Januar sagte Bundespräsident Gauck: „Es gibt
keine deutsche Identität ohne Auschwitz”. Jedes Kind in Deutschland weiß,
für wen die sechs Millionen stehen und was mit ihnen geschehen ist.
Ein Deutscher, der durch China und Russland reist, wundert sich über
Statuen von Stalin und Mao auf den Straßen und gerahmte Bilder beider
Diktatoren überm Herd.
Woher kommt diese Nostalgie, diese Verehrung von Massenmördern als
nationale Helden? Ist sie tatsächlich das Produkt von nationalem Umgang mit
der eigenen Geschichte? Wie stark beeinflusst die offizielle geschichtliche
Aufarbeitung eines Landes die Identität jedes Einzelnen? Gäbe es weniger
prorussische Separatisten in der Ukraine, wenn die Staten der
Ex-Sowjetunion sich schon Anfang der 90er Jahre einer intensiven
Entsowjetisierung unterzogen hätten?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Wir jungen Alliierten“ lesen Sie in der [1][taz.am
wochenende vom 18./19. Juli 2015].
17 Jul 2015
## LINKS
[1] /Ausgabe-vom-18/19-Juli-2015/!160799/
## AUTOREN
Christina zur Nedden
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