# taz.de -- Montagsinterview: 10 Jahre Jüdisches Museum: "Normal - was heißt … | |
> Seit seiner Eröffnung vor zehn Jahren hat sich das Jüdische Museum zum | |
> Besuchermagneten entwickelt. Programmdirektorin Cilly Kugelmann betont, | |
> dass man kein Holocaust-Museum sei. | |
Bild: Ciklly Kugelmann im Treppenhaus des Jüdischen Museums | |
taz: Frau Kugelmann, das Jüdische Museum Berlin (JMB) feiert seinen | |
10-jährigen Geburtstag. Kennen Sie, nach all den Jahren, einen jüdischen | |
Witz über Ihr Haus? | |
Cilly Kugelmann: Vielleicht den, dass das ganze Museum ein Witz ist. Nein, | |
Sie merken, ich kenne keinen. | |
Vor 10 Jahren musste das Museum seine Eröffnung wegen der Anschläge in New | |
York am 11. September 2001 verschieben. Wie war das? | |
Wir saßen in den Büros und bereiteten den Abend vor, als eine Kollegin uns | |
berichtete, dass ein Flugzeug in einen der beiden Türme des World Trade | |
Center geflogen sei. Später sahen wir im Fernsehen den Angriff auf den | |
zweiten Turm. Da war klar, dass wir die Eröffnung wie geplant nicht machen | |
konnten. Wir hatten viele amerikanische Gäste und Museumsleute hier, sie | |
konnten nicht zurückfahren, sie waren schockiert. Für den Abend haben wir | |
uns entschlossen, mit ihnen eine interne Eröffnung abzuhalten. So konnte | |
man wenigstens zusammensitzen und über sein Entsetzen reden. | |
Was löste der Anschlag bei Ihnen aus? | |
Ich dachte: Das verändert die Welt. Klar war mir auch, dass es sehr massive | |
Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung von Sicherheit und | |
Verlässlichkeiten geben würde. | |
Seit das Museum dann zwei Tage später eröffnet wurde, gibt es sehr strenge | |
Sicherheitskontrollen. Eine Spätfolge der Anschläge oder die "ganz normale | |
Vorsichtsmaßnahme" für jüdische Einrichtungen in Deutschland? | |
Es gab bereits vorher an vielen jüdischen Einrichtungen temporäre | |
Kontrollen. Die wurden abgebaut, wenn es die Situation erlaubt hat. Man | |
kann der Auffassung sein, dass einem Museum als Kultureinrichtung nichts | |
passiert. Aber die Entscheidung, zu sagen, wir lassen das, ist ein ganz | |
schwieriges Thema. Und wenn man sich einmal auf die Sicherheitsperspektive | |
einlässt, dann befindet man sich einfach in dieser Logik. | |
Meinen Sie nicht, dass Besucher das als störend empfinden? | |
Viele Besucher haben sich früher an den vielen Kontrollen gestört. Es ist | |
eine Behinderung. Und wo es geht, versuchen wir das zu reduzieren. Doch | |
seit 9/11 wird es allgemein als nichts Besonderes mehr wahrgenommen. | |
Das Jüdische Museum hat sich zu einem Besuchermagneten entwickelt, 750.000 | |
Besucher kommen jährlich, vor allem Touristen aus dem In- und Ausland. Die | |
neueste Kultur-Monitoring-Studie besagt, dass Berliner kaum ins JMB gehen. | |
Haben Sie dafür eine Erklärung? | |
Das ist so im Museumsalltag. Auf der ganzen Welt machen Touristen den | |
größten Anteil unter den Museumsbesuchern aus. Bei historischen Museen | |
haben wir zudem das Phänomen, das man nach ein, zwei Besuchen das | |
Wesentliche gesehen hat. Zudem funktionieren historische Zusammenhänge | |
anders als Gemälde. Gemälde kann man sich immer wieder und unter allen | |
möglichen Perspektiven anschauen. Aber historische Zusammenhänge sind eher | |
eine intellektuelle Konstruktion. | |
Viele Schulklassen besuchen auf ihren Berlinreisen Ihr Museum. Würden Sie | |
sagen, dass Sie die zentrale deutsche Aufklärungsinstanz in Sachen | |
Holocaust geworden sind? | |
Schulen kommen aus zwei Gründen: einmal wegen der NS-Geschichte, zum | |
anderen wegen der Religion. Für beide Themen ist der Gang in das Museum | |
interessant, weil der Lehrer für das Thema die Expertise in die Hand von | |
jemand anders legen kann. Wir sind kein Holocaust-Museum, aber ich kann mir | |
denken, dass wir aus dem Blickwinkel vieler Lehrer als Experten dafür | |
wahrgenommen werden - obwohl es in Berlin das Holocaustmahnmal samt | |
Ausstellungsbereich, die Topographie des Terrors und die Wannsee-Villa | |
gibt, die sich sehr viel genauer mit diesen Themen beschäftigen. | |
"Wir sind kein Holocaustmuseum", sagen Sie. Aber muss das nicht jedes | |
Jüdische Museum in Deutschland ins Zentrum stellen? | |
Das stimmt, kein Jüdisches Museum, das nach 1945 gegründet wurde, ist ohne | |
diese Geschichte denkbar. Ein Holocaustmuseum konzentriert sich auf die | |
Vorgeschichte der nationalsozialistischen Massenvernichtung der Juden, auf | |
die Ereignisse selbst und die Nachwirkungen. Das tun wir auch, aber das ist | |
nicht die zentrale Aufgabe des Museums in Berlin. Unser programmatischer | |
Anspruch bleibt, die vielen Schnittstellen zwischen der jüdischen und der | |
deutschen Geschichte sichtbar zu machen. | |
Das von Daniel Libeskind entworfene Gebäude galt und gilt als | |
architektonische Skulptur und ist für ein Museum schwer zu bespielen. Wenn | |
sie heute durch diesen Zickzackbau gehen, inspiriert Sie das immer wieder | |
neu? Oder nutzt sich der Bau ab? | |
Eine schwierige Architektur kann für die Überlegungen, wie man einen Raum | |
bespielt, sehr viel fruchtbarer sein als ein einfacher, offener Raum. | |
Sicher, man kann jeden Raum bespielen, wenn man sich etwas Entsprechendes | |
überlegt. Die Libeskind-Architektur ist symbolisch angelegt und hat gerade | |
deshalb Besucher dazu herausgefordert, ihre eigenen Bedeutungsinhalte auf | |
den Raum zu projizieren. Sie ermuntert uns auch dazu, Inhalte mit einer | |
selbstironischen Distanz zu präsentieren. Nehmen Sie den Automaten mit den | |
koscheren Gummibärchen. Das ist doch mit einem Augenzwinkern gemeint. | |
Was war für Sie persönlich die schwierigste Ausstellung? | |
Das ist die Ausstellung "Heimatkunde", die wir jetzt zum 10-jährigen | |
Jubiläum eröffnen. | |
Was bedeutet dieser merkwürdige Titel? | |
Wir haben uns überlegt, dass wir zum zehnjährigen Jubiläum nicht zurück-, | |
sondern in die Zukunft schauen wollen; wir haben uns vorgenommen, den | |
Zustand der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel künstlerischer Arbeiten | |
zu ermitteln. Dafür haben wir Arbeiten "ethnisch" deutscher, jüdischer, | |
israelischer, türkischer und anderer Künstler gesucht, die interessante | |
Positionen zum Thema "deutsche Identität" aufweisen oder sich mit einem | |
Aspekt Deutschlands beschäftigen. Wir haben auch ausgewählte Künstler | |
eingeladen, mit neuen Arbeiten einen Beitrag zu leisten. Wir wollen wissen, | |
was kollektive deutsche Identität im 21. Jahrhundert bedeuten kann, ob es | |
so etwas überhaupt gibt. Für dieses Projekt einen Titel zu finden war | |
ziemlich schwer. In dem etwas altbackenen Begriff "Heimatkunde" - früher | |
war das ein Schulfach - steckt auch der Aspekt, eine Heimat zu erkunden. | |
Auch für die, die hier gar nicht beheimatet sind. | |
Ist das nicht ein zu abstraktes Konzept von Heimatkunde, auch angesichts | |
der Protagonisten, die sie da eingeladen haben? Und wo ist die Verbindung | |
zu Ihrem Haus? | |
Das finde ich gar nicht abstrakt. Wir sind ja als Jüdisches Museum mit der | |
Präsentation einer Partikulargeschichte auf dem Hintergrund einer | |
Nationalgeschichte befasst. Und das Verhältnis von Minorität zur | |
Mehrheitsgesellschaft, in dem Zugehörigkeit immer neu definiert und | |
erkämpft werden muss, ist ein durchgehendes Thema in der Geschichte der | |
Juden in Deutschland. Die Frage, wie dieses Land seine Minderheiten | |
behandelt und ob es in der Lage ist, aus der Vielfalt seiner Bürger eine | |
Gesellschaft zu formen, in der sich alle irgendwie zu Hause fühlen, zieht | |
sich als roter Faden durch unsere Ausstellungen. Ein Jüdisches Museum ist | |
durch diesen besonderen Blick geradezu herausgefordert, sich diesen Fragen | |
zu stellen. | |
Die neue Akademie, die Sie zum Jubiläum gründen, soll sich ja auch in die | |
aktuelle Integrationsdebatte einmischen. Was genau kann ein Jüdisches | |
Museum dazu beitragen? | |
Es gibt in der jüdischen Geschichte eine sehr spezifische | |
Auseinandersetzung im Minoritäten-Majoritäten-Verhältnis. Es ist die | |
Geschichte einer Minderheit, die oft diskriminiert und mit Regulativen | |
belastet war, die ein Zusammenleben von Gleich zu Gleich erschwert haben. | |
Diese historische Erfahrung hat ein Nachdenken über die infrage stehenden | |
Zusammenhänge befördert, das zu den aktuellen Debatten über | |
gesellschaftliche Vielfalt und Integration interessante Aspekte beisteuern | |
kann. | |
Zum Beispiel? | |
Diese Debatte, die jetzt als Islamismus- oder Islamdebatte geführt wird, | |
scheint mir in eine Richtung zu gehen, für die es interessante Parallelen | |
in der jüdischen Geschichte gibt. Als Reaktion auf den Bedeutungsverlust | |
der Religion im Prozess der Säkularisierung, der im Judentum mit der | |
Herausbildung einer Reformbewegung einherging, die auch die Liturgie des | |
Gottesdienstes radikal veränderte, entstand eine neoorthodoxe Bewegung, die | |
jede Modernisierung ablehnte. Modernisierer und Bewahrer standen sich | |
unversöhnlich gegenüber. In Zeiten der Umgestaltung und Wandlung geht es | |
immer um die Frage, in welcher Beziehung das Althergebrachte mit den | |
Neuerungen stehen, wie also die Tradition mit dem Fortschritt versöhnt | |
werden kann. | |
Welche Rolle spielt für Sie Ihr Jüdischsein? | |
Ich habe mich immer beschrieben als nichtgläubiger Ritualist. Ich mag | |
Brauchtum, und ich begehe bestimmte Feiertage, obwohl ich nicht glaube. | |
Sie haben ja ein paar Jahre in Israel gelebt, von 1966 bis 1971. Warum sind | |
Sie wieder zurückgekommen? War das so geplant? | |
Nein, ich wollte in Israel leben - nicht mehr in Deutschland. Ich habe dann | |
aber gesehen, dass die politischen Konflikte dort eine Gesellschaft | |
geschaffen haben, die mir nicht gefallen hat. Das war in einer Zeit, wo die | |
Atmosphäre und die Lebensumstände mit denen in der DDR vergleichbar waren. | |
Es war ein realsozialistisches Land mit einem bescheidenen Lebensstandard, | |
in dem die Unterscheidung zwischen gelbem Käse und weißem Käse als | |
kulinarischer Höhepunkt betrachtet wurde. Aber es war nicht das Essen, | |
sondern dieser Druck einer unklaren politischen Entwicklung. Es war ein | |
Leben auf dem Prüfstand. Rückzugsmöglichkeiten in einen privaten Alltag | |
waren damals nicht gegeben. Man musste täglich bekennen, dass man in einer | |
Situation permanenter militärischer Grenzkonflikte auf der richtigen Seite | |
stand. Das fand ich doch sehr anstrengend. | |
Gab es ein Schlüsselerlebnis, wo Sie gesagt haben: Jetzt ist Schluss? | |
Ja. Nach dem Sechstagekrieg konnte man in den von den israelischen | |
Streitkräften eingenommenen jordanischen Teil von Jerusalem gehen. Wir | |
waren alle gespannt auf die mythisch aufgeladene, oft umkämpfte Westmauer | |
des Tempels, das letzte archäologische Zeugnis des herodianischen Bauwerks. | |
Die Mauer, die nicht auffallend hoch war, befand sich in einer engen Straße | |
unweit des ehemaligen jüdischen Viertels der Jerusalemer Altstadt, ihre | |
historische Bedeutung hat sie für uns eindrucksvoll gemacht. Sehr bald nach | |
Ende des Sechstagekriegs 1967 wurde das Viertel vor dieser Mauer | |
abgerissen, um sie zu einer nationalen Ikone zu machen. Das hat mich sehr | |
schockiert. Es war für mich ein Anzeichen, dass da eine Entwicklung | |
anfängt, die ich nicht sympathisch fand. | |
Als Sie Ihren israelischen Freunden eröffnet haben, dass Sie nach | |
Deutschland zurückgehen: Standen Sie da unter dem Druck, sich dafür | |
rechtfertigen zu müssen, wie Sie im Land der Täter leben können? | |
Oh ja, aber nicht von anderen, von mir selbst. Ich war ja weggegangen, um | |
nicht in Deutschland zu leben. | |
Es war also furchtbar für Sie, hier aufzuwachsen? | |
Ja, aber was heißt "furchtbar". Wir sind in Familien aufgewachsen, die die | |
Vernichtungslager überlebt haben. Das war eine emotional sehr düstere | |
Atmosphäre, in die wir nach dem Krieg geboren wurden. Wir selbst haben zwar | |
nichts Schlimmes erlebt, aber der Schatten der unausgesprochenen Erlebnisse | |
der Eltern schwebte über unserem Leben. Wir flohen nach Israel, um aus | |
dieser Depression herauszukommen, die natürlich mit Deutschland verbunden | |
war. | |
Wie haben Ihre Eltern den Holocaust überlebt? | |
Meine Eltern waren beide in Auschwitz und in vielen anderen Lagern. Ihre | |
Kinder wurden ermordet, und sie haben beide zufällig überlebt, sich | |
wiedergefunden und noch einmal eine Familie gegründet. Und obwohl sie | |
damals auswandern wollten wie die meisten jüdischen Überlebenden, sind sie | |
in Deutschland hängen geblieben. Das haben wir Kinder - so gemein, wie | |
Kinder eben sein können - ihnen vorgeworfen. | |
Glauben Sie, dass jüdisches Leben in Deutschland jemals wieder ganz normal | |
sein kann? | |
Es verändert sich ja mit den Generationen. Und "normal" - was heißt das | |
schon? Aber wir sind heute sehr weit weg von dieser Zeit. Wir haben heute | |
eine Schülerschaft, die keinerlei familiäre Beziehung zu Deutschland im | |
Nationalsozialismus hat, die aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien | |
oder dem Iran kommt. Diese Zeit ist Geschichte geworden, an die heute mit | |
Mahnmalen und einer ritualisierten Gedenkpolitik erinnert wird. Das | |
Holocaust-Narrativ wird sehr viel schwächer und sehr viel abstrakter. Und | |
ideologischer. | |
Wie das? | |
Je näher man zeitlich an den Ereignissen selbst ist, desto differenzierter | |
ist der Blick. Meine Eltern, die diese Zeit unmittelbar erlebt haben, | |
lernten Deutsche als SS-Personal und als Verfolger kennen, aber auch als | |
Menschen, die ihnen Brot über den Zaun des Konzentrationslagers warfen. Das | |
Fehlen persönlicher Erfahrungen und Kenntnis verleitet viele zu stereotypem | |
Denken, das sich in Ressentiments äußern kann. | |
Dann müsste es doch besser werden, wenn die Leute sich mit Geschichte | |
beschäftigen. | |
Ja, umso differenzierter wird das Bild und umso kleiner wird die | |
Bereitschaft, pauschale Urteile zu fällen. Deswegen sind wir ja da. | |
Das ist Ihre Mission? | |
Genau. | |
5 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Gannott | |
Rolf Lautenschläger | |
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