| # taz.de -- NS-Dokumentationszentrum München: In die Keimzelle der Nazis | |
| > Siebzig Jahre ist die Eroberung der „Hauptstadt der Bewegung“ her. Nun | |
| > eröffnet in München das NS-Dokumentationszentrum. | |
| Bild: Wie die Nazi-Geschichte darstellen, ohne sie zu banalisieren? Das ist in … | |
| MÜNCHEN taz | Edgar Feuchtwanger hat es sich nicht nehmen lassen, zum | |
| frühestmöglichen Zeitpunkt das Innere dieses großen weißen Kubus zu | |
| betreten. Nun steht er hier, nahe dem Münchner Königsplatz, zwischen | |
| Bildern und faksimilierten Dokumenten mit Hakenkreuzen, und freut sich. | |
| „Das ist natürlich sehr gut, dass sich das Rad der Geschichte im vollen | |
| Zirkel gedreht hat“, sagt der 90-Jährige. Früher einmal, erinnert er sich, | |
| hätten die Leute ja gesagt, dass sie nichts mitbekommen hätten von der | |
| braunen Zeit in München. | |
| Edgar Feuchtwanger, ein Neffe des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, hat | |
| zwangsläufig viel mitbekommen. Er war noch ein Kind, als gleich um die Ecke | |
| nahe der Grillparzerstraße ein neuer Nachbar einzog: Adolf Hitler. | |
| Feuchtwanger erinnert sich an ihre erste Begegnung: „Hitler hat seinen Hut | |
| gehalten und ist in sein Auto gestiegen.“ Zu einer wirklichen Begegnung | |
| zwischen dem „Führer“ und dem jüdischen Jungen ist es selbstverständlich | |
| nie gekommen. 1939 entkam der damals 15-Jährige nach England. „Mein Onkel | |
| Lion war Hitlers bestgehasster Mann“, sagt der Neffe. | |
| Im NS-Dokumentationszentrum München, das am Donnerstag feierlich eröffnet | |
| worden ist, laufen an einer Außenwand zwei historische Filme parallel. Der | |
| obere zeigt eine Kranzniederlegung zu Ehren der Toten des Hitler-Putsches | |
| von 1923: eine religiös-sakral anmutende Veranstaltung. Im Mittelpunkt | |
| steht der „Ehrentempel“ für die Toten – und Hitler. Auf dem Film darunter | |
| ist zu sehen, wie Arbeiter Löcher in Säulen bohren, um dort Sprengladungen | |
| anzubringen. 1947 war das, und die ganze Hitler-Herrlichkeit flog | |
| anschließend auf Anordnung der Amerikaner in die Luft. | |
| Direkt hinter den laufenden Bildern aber, in unmittelbarer Nachbarschaft | |
| zum Dokumentationszentrum, steht noch immer der Sockel dieses Denkmals, mit | |
| Gras bewachsen. | |
| ## Keine NS-Devotionalien | |
| Man kann nicht behaupten, dass es die Münchner besonders eilig gehabt | |
| hätten, an die Geschichte der „Hauptstadt der Bewegung“ zu erinnern, dort, | |
| „wo der Ungeist seinen Ausgang nahm“, wie es der bayerische Kultusminister | |
| Ludwig Spaenle formuliert. Doch jetzt steht dieser weiße Würfel endlich, in | |
| angenehmem Kontrast zu all den klassizistischen und neoklassizistischen | |
| Prunkbauten, die die Umgebung prägen und wo einmal die NSDAP mit mehr als | |
| 6.000 Bediensteten ihre Herzkammer hatte, exakt dort, wo früher das „braune | |
| Haus“ stand. Im Innern wird auf vier Etagen nachgezeichnet, wie es die | |
| Nazis schaffen konnten, zu dem zu werden, was sie wurden. | |
| Wer Ehrendolche mit Brillanten oder SS-Uniformen erwartet, wird enttäuscht | |
| werden. Die Ausstellung verzichtet konsequent auf die Präsentation von | |
| NS-Devotionalien, sondern zeichnet Geschichte anhand von Bildern, | |
| Dokumenten, Plakaten und Biografien nach. „Flachware“ nennen das manche | |
| Museumsdidakten abwertend. Tatsächlich gelingt es dieser Präsentation so, | |
| Geschichte und Gegenwart darzustellen, ohne durch vermeintliche | |
| Schauobjekte zu banalisieren. | |
| Dies ist zu Recht eine sehr münchnerische Ausstellung. Warum München?, so | |
| lautet die Leitfrage. Warum gelang es der extremen Rechten ausgerechnet in | |
| dieser doch scheinbar so liberalen Stadt, Fuß zu fassen, sich auszubreiten | |
| und schließlich ein Terrorsystem über ganz Europa zu errichten? Die Schau | |
| beginnt in der vierten Etage konsequent mit einem Bild aus Flandern im | |
| Ersten Weltkrieg, darauf verletzte Soldaten. Es folgt ein Bild des | |
| Trauerzugs für den 1919 von Rechtsextremen ermordeten linken | |
| Ministerpräsidenten Kurt Eisner. | |
| Nicht die 1919 blutig niedergeschlagene Münchner Räterepublik bereitete den | |
| Nazis den Boden, so viel wird deutlich, sondern die bürgerliche Reaktion | |
| darauf. Bayern entwickelte sich zu Beginn der 1920er Jahre zur | |
| antipreußischen „Ordnungszelle“ im Reich, in der die rechtskonservativen | |
| Machthaber antisemitische Bewegungen von der Thule-Gesellschaft bis zu zum | |
| Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund gewähren ließen, ihre Waffenhorte | |
| gnädig übersahen und der jungen NSDAP so den Weg bereiteten. | |
| Die Nazis schienen diesen Herren als ein angenehmes Übel, zwar | |
| rabaukenhaft, aber doch dazu geeignet, die Linke als dauerhaftes Feindbild | |
| zu denunzieren. Selbst der Hitler-Putsch von 1923 änderte daran wenig. | |
| Einige Jahre später war die NSDAP wieder erlaubt. | |
| ## Begeisterte Massen | |
| Im Mittelpunkt dieser Dokumentation stehen die Täter, ihre Spießgesellen, | |
| ihre Freunde und Finanziers und begeisterte Massen. München öffnete sich | |
| dieser Bewegung auch, weil eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten vorhanden | |
| war, vom Antisemitismus bis zum Preußenhass, gepaart mit völkischem Denken. | |
| Ihre größten Wahlerfolge konnte die NSDAP in protestantischen Regionen wie | |
| Franken oder Ostfriesland feiern, doch der tief sitzende Katholizismus in | |
| Oberbayern verhinderte es doch nicht, dass München als Keimzelle der Nazis | |
| prächtig gedieh. Das kommt in der Ausstellung ein wenig zu kurz. | |
| Nichts aber bleibt vom Mythos der angeblichen Distanz zum NS-Regime; etwa | |
| bei dem Bild des Münchner Polizeireservebataillons 72, das die Männer beim | |
| Mord an slowenischen Zivilisten zeigt, bei der Erinnerung an den Münchner | |
| Josef Kramer, der 1944 als Kommandant von Auschwitz agierte, oder bei den | |
| Fotos vom „Judenlager“ Milbertshofen, wo Menschen zusammengepfercht auf | |
| ihre Deportation warten mussten, nur ein paar Kilometer vom Stachus | |
| entfernt. Je tiefer man von der vierten Etage hinabsteigt, desto mehr | |
| wandelt sich die Ausstellung zu einer Dokumentation des Terrors. | |
| Ganz unten schließlich landet der Besucher im Jahr 2014. An einem | |
| „News-Ticker“ sind die Taten und Propagandaaktionen von Neonazis zu | |
| verfolgen, dank dpa immer aufs Neue aktualisiert. So wird endgültig | |
| deutlich, dass es hier keineswegs um eine abgeschlossene, lange | |
| zurückliegende Geschichte geht, mit der man sich beschäftigen kann oder | |
| auch nicht – sondern um ein Thema, dass sich nicht erledigt hat. | |
| 1 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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