# taz.de -- Götz Alys Essayband „Volk ohne Mitte“: Fretwursts aller Klassen | |
> Zwischen Raubzug und Massenmord: Der Historiker Götz Aly spürt in seinen | |
> Essays dem deutschen opportunistischen Aufsteiger nach. | |
Bild: Brauner Kollektivismus: Hände hoch zum Hitlergruß. | |
Der wichtigste Grund für diesen Autor ist nach wie vor die Aufklärung gegen | |
alle konservativen und linken Gewissheiten. Seine These, die er gern als | |
Rufer in der Wüste vorträgt: Wer den Nationalsozialismus als ein Regime des | |
Großkapitals, des Pöbels oder sonst wie zwielichtiger Mächte begreift, hat | |
analytisch verloren. | |
Götz Aly beharrt darauf, dass die NSDAP die erste deutsche Volkspartei war | |
und dass diese nicht dominierend durch Terror und Tyrannei wurde – beides | |
spielte auch eine Rolle, vor allem aber gegen jüdische Bürger und | |
Bürgerinnen, gegen Abweichende, gegen die raren Kritiker des Regimes. | |
Das nationalsozialistische Deutschland war eines, das auf selbst gewählte | |
Gefolgschaft setzen konnte, und zwar in all ihren Schichten und Milieus, | |
besonders aber jener, die auf Bildung und akademisches Profil halten. Aber | |
nicht diese allein: Die Hitlerbewegung, Staat geworden, konnte auf Frauen | |
und Männer bauen, die ihren Vorteil aus den Verhältnissen zu ziehen | |
wussten. | |
Alys Pointe: Der Typus des gefälligen Mannes, der gefälligen Frau ist eine | |
systemübergreifende – sie lieben den persönlichen Vorteil, nehmen ihn gern | |
mit. Not kennt kein Gebot – ein gern gewähltes deutsches Sprichwort: Dies | |
nahmen sich alle zu Herzen, als es galt, sich die Habseligkeiten | |
deportierter oder geflüchteter Juden in Deutschland unter die Nägel zu | |
reißen. | |
Aly wählt zur Illustration seiner These eine Romanfigur aus Uwe Johnsons | |
„Jahrestagen“: Alfred Fretwurst, der 1968 in der DDR die Habe aus dem Land | |
verschwundener Bürger versteigerte. Ein Mann, eine Existenz, die es überall | |
auf der Welt gab, gibt und geben wird. Eine, die bei allen politischen | |
Schweinereien wenigstens mitläuft, auf alle Fälle seinen Vorteil aus ihnen | |
zieht. Fretwurst ist für den Historiker Aly mehr als ein Untertan, er ist | |
ein stummer Mitmacher, nicht nur ein Erdulder. | |
## In die Jetztzeit | |
Aly will auf eine gesellschaftliche Disposition hinaus, die es in den | |
meisten Ländern Europas vor 1933 gab, aber in Deutschland ihre entgrenzende | |
Fassung schuf und zur Konsequenz trieb: die der Formbarkeit und | |
Uniformierbarkeit, die der antifreiheitlichen Atmosphäre. | |
Und das meint für ihn mehr als nur spießige Enge, gemütliches, xenophobes | |
Beieinanderhocken. „Volk ohne Mitte“ meint ein Deutschland – und er will | |
dies durchaus ins Heutige begriffen wissen – , dessen Milieu der Mitte mehr | |
raunt als meckert, als die Freiheit beherzt zu lieben weiß. Und zwar | |
klassenübergreifend. | |
Das Buch enthält allermeist nicht zusammenhängend publizierte ältere Texte | |
Alys – aktualisiert und kommentiert. Die Dankesrede für den | |
Ludwig-Börne-Preis 2012 etwa oder einen Text über Stalins „Lockruf“ zur | |
deutschen Wiedervereinigung 1952, den Kanzler Konrad Adenauer zugunsten der | |
stabilisierenden Westbindung der Bundesrepublik ignorierte. | |
In „Volk ohne Mitte“, das die Fretwursts aller Klassen benennt, findet sich | |
abermals der berühmte Text Alys zu den Fachkollegen wie Theodor Schieder, | |
die selbst in den Nationalsozialismus nicht nur verstrickt waren (als | |
„Salonantisemiten“), sondern ihn auch tüchtig beförderten. Alle hatten | |
ihren Platz im Volksstaat: Man musste kein Mörder im engen strafrechtlichen | |
Sinne sein, um Schuld auf sich genommen zu haben. | |
## Wissenschaftliche NS-Recherche | |
Dass die Vergangenheit in die Jetztzeit reicht, illustriert der | |
erschütternde Text über die Recherchen Alys in wissenschaftlichen | |
Einrichtungen, die sich der Hirnforschung im Nationalsozialismus widmeten. | |
Sie war nicht nur zäh, sie wurde vielmehr auch aktiv behindert. | |
Ehrenwert die schöne Studie über Wilhelm Röpke, einen der „Erfinder“ der | |
sozialen Marktwirtschaft – vor allem aber ein Liberaler, ein Gegner von | |
Gesellschaften, die sich samt Staat als Volkskörper verstanden, ein Ökonom, | |
der schon in den zwanziger Jahren die keimende nationalsozialistische | |
Stimmung witterte und doch bei mehr oder weniger radikalen Linken kein | |
Gehör fand, weil sie noch auf Klassenkampfmodus geschaltet waren. | |
Aly schätzt das Antikollektive, er liebt das Freiheitliche, Individuelle – | |
und er wünscht sich im öffentlichen Sprechen über das | |
Nationalsozialistische (und die DDR) viel mehr „Betroffenheit“ – stärkere | |
Selbstbefragung dazu, wie die eigene Familie eigentlich seit 1933 über die | |
Runden kam – und zu wessen Lasten. | |
Alys Texte können so lehrreich, verdienstvoll, angenehm kontrovers und | |
zügig argumentiert sein. Würde Götz Aly noch zu einer Tonalität finden, die | |
weniger belehrend, weniger eifernd wäre, würde er außerdem auf den Hinweis | |
verzichten, er sei in der Geschichtswissenschaft nach wie vor irgendwas wie | |
ein Paria, ein Verpönter, könnten Lektüren wie diese gar glücklich stimmen. | |
Ein solcher Outsider ist er längst nicht mehr. Insofern: Seine Arbeiten | |
bleiben ein starker Gewinn – aller Rechthaberei beflissenster Sorte zum | |
Trotz. | |
12 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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