# taz.de -- Nachruf Günter Grass: Es gibt kein unschuldiges Papier | |
> Der Schriftsteller Günter Grass ist im Alter von 87 Jahren gestorben. Die | |
> Frage der Schuld in der Geschichte hat seine Romane geprägt. | |
Bild: Die Hand von Günter Grass, ein Requisit umfassend. | |
Wir sind noch ganz am Anfang der „Blechtrommel“, als der Ich-Erzähler, der | |
am Beginn dieses berühmtesten und wahrscheinlich auch wirkmächtigsten | |
Romans der alten Bundesrepublik Deutschland in einer „Heil- und | |
Pflegeanstalt“ steckt, von seinem Wärter Bruno etwas verlangt, damit er | |
seine Lebensgeschichte aufschreiben kann: „fünfhundert Blatt unschuldiges | |
Papier“. So hat die Weltkarriere des Günter Grass also begonnen. Mit dem | |
Verlangen nach unschuldigem Papier. | |
Es ist interessant, sich angesichts des Todes dieses Schriftstellers – der | |
sehr nahegeht – einmal auszumalen, auf wie viele verschiedene Weisen diese | |
kleine Szene inzwischen gelesen worden sein mag. Mag sein, dass sie 1959, | |
als die „Blechtrommel“ erschien, oder vielmehr: in der Literaturszene der | |
Bundesrepublik einschlug, mitten in der als prüde verrufenen Adenauerzeit | |
also, tatsächlich etwas sexuell Anzügliches und Provozierendes hatte; dass | |
das Wort „unschuldig“ ausreichte, um Verkäuferinnen in | |
Papierwarengeschäften zum Erröten zu bringen, erwähnt der Erzähler | |
ausdrücklich. | |
Mag auch sein, dass die Szene, wie die ganze Rahmenhandlung des Romans, | |
seit den siebziger Jahren, spätestens seit der Verfilmung durch Volker | |
Schlöndorff, schnell überlesen worden ist. Man wollte dann halt rasch zu | |
den deftig, sinnlich und mit dieser spezifisch Grass’schen Mischung aus | |
Anziehung und Abstoßung, lebensprall geschilderten Szenen vordringen, für | |
die die „Blechtrommel“ so berühmt geworden ist. | |
Die Szene mit dem Aal. Die kleinbürgerliche Enge in Danzig, während der | |
Nationalsozialismus längst die Macht erobert. Die sprachlich | |
zurückgenommene, aber gerade deshalb so eindringliche Schilderung der | |
Reichspogromnacht: „Es war einmal ein Spielzeughändler, der hieß Markus …… | |
Das Brausepulver im Bauchnabel. Die Verteidigung der polnischen Post zu | |
Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dann auch noch das Fronttheater mitten im | |
Krieg, zu dem Oskar und seine Blechtrommel zur Soldatenunterhaltung | |
aufbrechen. | |
## Ausmaß von Schuldfragen | |
Das alles war Literatur, mit dem Beiwort: große. Auch wenn er weltweit für | |
seine Rolle als engagierter Schriftsteller berühmt war, hat er 1999 ganz zu | |
Recht vor allem wegen solcher Szenen den Nobelpreis bekommen. Und es war | |
immer auch mehr als nur Literatur. Es waren Möglichkeiten, darüber | |
nachzudenken, was während des Nationalsozialismus eigentlich passiert ist. | |
Und es waren Anlässe, sich als Nachgeborener in ein Verhältnis zu setzen zu | |
den Verstrickungen, die zum Holocaust geführt haben. Solche Anlässe waren | |
nötig, noch lange Zeit. Erst mit der Weizsäcker-Rede zum 40. Jahrestag des | |
Kriegsendes 1985 und mit der großen Wehrmachtausstellung 1995 hat man | |
wirklich offen über das Ausmaß von Schuldfragen sprechen können. | |
Seitdem in der großen Öffentlichkeit bekannt wurde, dass Günter Grass Ende | |
des Jahres 1944 Mitglied der Waffen-SS geworden ist, wie er es 2006 in | |
seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ geschildert hat, liest man | |
die Szene mit dem unschuldigen Papier aber auch noch einmal anders. | |
Vielleicht hat er gemeint, sich mit der „Blechtrommel“ aus den Schuldfragen | |
heraus- und in die Unschuld des Papiers hineinschreiben zu können. | |
Vielleicht musste er auch nur eine solche Illusion hegen, um mit dem | |
Schreiben überhaupt anfangen zu können. Funktioniert hat es letztlich | |
jedenfalls nicht – auch wenn es eine Zeit gegeben hat, in der Grass das | |
vielleicht wirklich geglaubt hat. | |
Das war um das Jahr 1970 herum, als Deutschland endlich mehr Demokratie | |
wagen wollte – woran Günter Grass als Wahlkämpfer für Willy Brandt einigen | |
Anteil hat. Im November 1970 gibt Günter Grass ein aufschlussreiches | |
Interview. Auf die Frage nach dem inneren Zusammenhang seiner Danziger | |
Trilogie, zu der neben der „Blechtrommel“ die Novelle „Katz und Maus“ u… | |
der Roman „Hundejahre“ gehören, sagt Grass: „Alle drei Ich-Erzähler | |
schreiben aus Schuld heraus, aus verdrängter Schuld, aus ironisierter | |
Schuld, aus pathetischem Schuldverlangen, einem Schuldbedürfnis heraus.“ | |
So rationalisiert kann man nur sprechen, wenn man meint, das Thema hinter | |
sich gelassen zu haben, abgehakt. Wobei Krieg und Nazizeit als Bezugspunkt | |
der eigenen Entwicklung präsent bleiben: Seine Generation, sagt Grass | |
weiter, lebe „immer in dem Bewusstsein, zufällig zu leben, zufällig zu | |
schreiben […]. Der Krieg hat als eine Art Gegenauslese eine Menge von | |
Talenten und wahrscheinlich größeren Talenten, als wir alle es sind, | |
fortgenommen.“ | |
## Das polternde Ego | |
Es gibt viele, gleichsam zur Grass-Folklore zählende Wahrzeichen, die sich | |
mit der Zeit um diesen Autor angereichert haben und von wohlmeinenden | |
Deutschlehrern ebenso weitergegeben wurden wie von seinen Gegnern, von | |
denen es übrigens auf der linken Seite ebenso viele gab wie auf | |
konservativer (was Grass selbst nie richtig verstanden hat, er dachte | |
immer, wer gegen ihn ist, muss automatisch reaktionär oder konservativ | |
sein): die Pfeife, der Schnurrbart, seine Knarzigkeit, sein polterndes Ego. | |
Mit zunehmendem Alter hatte er eine Tendenz, eine Art Darsteller seiner | |
selbst zu werden. Aber in solchen Äußerungen wie in diesem Interview hat | |
man so etwas wie einen Kern dieses Schriftstellers. Als Stellvertreter | |
größerer Talente schreiben zu müssen, die im Krieg gefallen sind: Aus | |
solchen Äußerungen kann man eine große Traumatisierung herauslesen. | |
Doch das alles sieht er um 1970 herum eben hinter sich. „Die Gesellschaften | |
sehen sich auf einmal mit Friedensproblemen konfrontiert“, sagt er in dem | |
Interview, auf die Gegenwart der alten Bundesrepublik bezogen. Und weiter: | |
„Die Fixierung auf den Kriegsfall, auf den Ernstfall beginnt langsam absurd | |
zu werden.“ Friedensprobleme – damit meint er die Bildungsreform, die | |
damals von der Politik angegangen wird. Und er meint die ökologischen | |
Probleme sowie die Fragen von Gleichberechtigung und Frauenemanzipation, | |
die er in seinen Romanen „Der Butt“ (1977) und „Die Rättin“ (1986) | |
literarisch thematisieren wird. | |
Was von diesen beiden, inzwischen, wenn man mal ehrlich ist, schon wieder | |
halb vergessenen Romanen aber bleiben wird – sind vor allem die Grünen. Es | |
hat sich dann doch durchgesetzt, dass man solche Probleme im Nachgang der | |
68er Aufbrüche besser konkret politisch bearbeiten sollte. Den irgendwo | |
auch paternalistischen Zug großer Schriftstellerfiguren, die den Anspruch | |
erheben, die Probleme der Zeit in Romane gießen zu können, brauchte man | |
nicht mehr. Die Gegenöffentlichkeit wollte sich teils nicht mehr so auf | |
große, einzelne Männerfiguren zentralisieren, teils suchte sie sich neue | |
Zentralfiguren: Petra Kelly, Joschka Fischer. | |
## Unübersichtliche Gemengelage | |
Zur Alternativbewegung konnte Grass nie ein entspanntes Verhältnis | |
aufbauen, den antiautoritären Gestus hat er niemals verstanden. Lieber hat | |
er versucht, den politischen Autoritäten die literarische Autorität des | |
engagierten Intellektuellen entgegenzusetzen, was spätestens in der | |
komplizierten globalisierten Welt nach der Wiedervereinigung mehr als | |
fragwürdig geworden ist. | |
Mit seinem großen Wiedervereinigungsroman „Ein weites Feld“ ist Grass dann | |
auch nicht nur literarisch gescheitert. „Dieser Roman ist unlesbar“: Es war | |
so etwas wie offene Majestätsbeleidigung, als die Kritikerin Iris Radisch | |
das 1995 in der Zeit schrieb, aber sie hatte natürlich recht, auch | |
intellektuell. Der unübersichtlichen Gemengelage aus Postdiktatur und | |
wirtschaftlicher Übernahme, Identitätswandel und Geschäftemacherei, | |
Aufbrüchen und notwendigen Übergängen war diese hölzerne Prosa nicht | |
gewachsen. | |
Und dann holte ihn mit dem „Häuten der Zwiebel“ und der gewaltigen | |
öffentlichen Debatte über seine SS-Mitgliedschaft die Vergangenheit und der | |
Ernstfall von Krieg und Schuld wieder ein. Es gibt kein unschuldiges | |
Papier. | |
Inzwischen muss man längst beides rekonstruieren: was Günter Grass | |
literarisch so überlebensgroß hat werden lassen und warum so viele Menschen | |
so vehement mit ihm als Figur verstrickt waren, auch in der Ablehnung. Was | |
das Literarische betrifft, lohnt es sich, noch einmal „Katz und Maus“ zu | |
lesen. Mit welchem selbstsicheren modernen Gestus der Erzähler da einen | |
Anfang inszeniert, Möwen in den Himmel wirft und die Ostseelandschaft bei | |
Danzig beschwört, das ist bis heute toll. | |
## Viel Raum für andere | |
Allerdings sieht man auch, was von heute aus historisch an seinem Schreiben | |
wirkt. In all seiner barocken Bildermacht hat er es vor allem mit | |
Psychologie und mit widerstreitenden, ambivalenten Gefühlen nie groß | |
gehabt. Für solche Autoren wie Peter Handke hat er viel Raum gelassen. | |
Immerhin: Er hat auch ihren Boden bereitet. Und irgendwann wirkten dann | |
Autoren wie Tolstoi und Proust sowieso wieder viel moderner als er. | |
Was die Verstrickung mit Günter Grass als öffentlicher Figur betrifft, ist | |
es gut möglich, Familienkonstellationen aufzumachen. Für die anderen Großen | |
der Nachkriegsliteratur war er so etwas wie ein großer, etwas lärmender | |
Bruder, inklusive aller Platzhirschkämpfe, die mit ihm auszufechten sind. | |
Max Frisch, Hans Magnus Enzensberger, auch Christa Wolf, auch Kritiker wie | |
Marcel Reich-Ranicki, sie alle haben sich an ihm abgearbeitet, mit ihm | |
gerangelt, sich aber manchmal auch hinter seinem breiten Rücken versteckt. | |
Und jemand wie ich beispielsweise, Jahrgang 1963, hatte mit ihm | |
wahrscheinlich immer auch Vaterverstrickungen abzuarbeiten. Es war schon | |
klar, dass die Wirklichkeit ohne ihn anders gewesen wäre und dass er dazu | |
beigetragen hat, sie nach dem Krieg überhaupt lebbar zu machen. Aber bis | |
zum Schluss konnte man sich auch wahnsinnig über ihn aufregen, etwa, als er | |
in seiner späten Novelle „Im Krebsgang“ die Generation der Söhne als | |
hilflose Weichlinge darstellte, die ohne die Hilfe seiner Generation nichts | |
gegen die neuen Neonazis unternehmen würden (erzähltechnisch etwas | |
komplexer ist es schon, aber nicht viel). | |
Günter Grass, das war bis zuletzt nicht einfach nur eine weltwichtige | |
literarische Großvaterfigur oder auch ein Zeitzeuge. Er hat viel bewirkt, | |
zum Teil auch in der Ablehnung. Und irgendwo ist auch eine Dankbarkeit | |
dafür da, dass man nicht in seiner Haut stecken musste. | |
Auf vielen seiner Romane liegt schon ein bisschen der Staub. Aber als | |
Gestalt, die über ihre Geschichten hinausgeht, wird er bei einem bleiben, | |
in all seinen Widersprüchen. | |
13 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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