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# taz.de -- Oskar Negt über Günter Grass: „Uns verband eine Fernliebe“
> Der Soziologe Oskar Negt war ein persönlicher Freund von Günter Grass.
> Ein Gespräch über den Typus des politischen Schriftstellers.
Bild: „Die SPD bedeutete für ihn Substanz“: Grass redet im Berliner Willy-…
taz: Herr Negt, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von Günter Grass' Tod
erfuhren?
Oskar Negt: Sein Tod hat mich überrascht und sehr traurig gemacht. Ich habe
noch im November in Hannover auf einer Veranstaltung mit ihm diskutiert.
Grass wirkte ungeheuer lebendig. Seine Frau musste ihn nachts um drei Uhr
auffordern, endlich nach Hause zu fahren.
Sie beide hegten Sympathien für die Sozialdemokratie und haben sich
jahrzehntelang in Politik eingemischt. Waren Sie befreundet?
Ja. Wir waren seit Mitte der 60er Jahre persönlich befreundet, trafen und
sahen uns allerdings selten. Uns verband eine Fernliebe, wir hielten
telefonisch oder per Brief Kontakt. Ich habe viel, eigentlich alles von ihm
gelesen. Und immer, wenn wir uns persönlich trafen, lebte diese Sympathie
sofort wieder auf.
Wie würden Sie die Beziehung charakterisieren, die Grass zur SPD pflegte?
Die SPD bedeutete für ihn politische Substanz. Sie war die Partei, die für
seine Werte stand. Er ist ja mehrmals aus- und wieder eingetreten, allein
das zeigt, welch enge Beziehung das war. Grass und die SPD, das war wie die
Jungfrau Maria und die katholische Kirche. Beides gehörte zusammen.
Grass unterstützte die Wahlkämpfe Willy Brandts und half bei dessen Siegen
1969 und 1972. Was machte seine Wirkung aus?
Er wirkte zunächst durch seine Autorität und Bekanntheit als
Schriftsteller. Grass zehrte ja zu Recht ein Leben lang von seinem Erfolg
mit der Blechtrommel. Außerdem hatte er ein einzigartiges Talent als
Erzähler, er konnte wirklich in Bildern sprechen. Nicht zuletzt war Grass
der Typus des politischen Schriftstellers schlechthin, der davon überzeugt
war, sich einmischen zu dürfen und zu müssen. Er verstand Intellektuelle
nie als folgsame Legitimatoren der Politik. Bei all dem spielte auch eine
Rolle, dass er aus Danzig stammte, also Emigrant war.
Inwiefern war das wichtig?
Er kannte das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein. Angriffe und
Feindseligkeiten, denen Intellektuelle ausgesetzt sind, machten ihm wenig
aus. Sie waren für ihn eher ein Antrieb.
Sie selbst waren ein intellektueller Wortführer der außerparlamentarischen
Opposition, sie fühlten sich der Studentenbewegung und den Gewerkschaften
verbunden. Wie beeinflusste das Ihre Freundschaft?
Ich habe bewundert, wie Grass sich für Brandt einsetzte. Aber wir hatten
selbstverständlich Meinungsverschiedenheiten. Seine Positionen zu Israel
teilte ich nicht immer. Ein ewiger Streitpunkt war auch: Für ihn bedeutete
die APO in den 60er und 70er Jahren nur eine Vorstufe für parlamentarisches
Engagement. Für mich war sie eine unabhängige Bewegung, die institutionelle
Politik beeinflusste.
Heute sitzen die Grünen im Parlament und es gibt eine neue APO, siehe
Blockupy. Haben Sie beide Recht behalten?
Grass mochte den Begriff "Dialektik" nicht. Aber ja, so gesehen behielten
wir beide Recht. Eine APO stabilisiert sich nicht, wenn nicht
innerparlamentarische Positionen dazu kommen. Da lagen wir nicht so weit
auseinander.
Stirbt der Typus des politisch denkenden und handelnden Schriftstellers
aus?
Ich hoffe nicht.
Aber?
Es gibt eine gewisse Orientierungsnot der linken Intellektuellen. Ich
glaube, das hängt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks zusammen. Solange es
die DDR noch gab, konnten Intellektuelle sagen, was der Sozialismus nicht
ist. Oder besser: Was er nicht sein darf. Mit dem Fall der Mauer ist diese
Abgrenzung verloren gegangen. Heute müsste man sagen, was der demokratische
Sozialismus sein könnte. Das ist schwieriger.
Würden Sie sich von Literaten oder Wissenschaftlern mehr politisches
Engagement wünschen?
Auf jeden Fall. Es würde der deutschen Debattenkultur gut tun, wenn sich
Intellektuelle wieder stärker in Politik einmischten. Mehr Schriftsteller,
Künstler und Wissenschaftler müssten sich politischer und risikobereiter
äußern, das brächte Tiefgang in so manche Diskussion.
13 Apr 2015
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
Sozialdemokratie
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SPD
Philosophie
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Deutschland
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Literatur
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