# taz.de -- Nachruf auf Oskar Negt: Es gibt immer eine Lösung | |
> Keiner hat die Kreativität und den historischen Optimismus der Neuen | |
> Linken so verkörpert wir er. Zum Tod des Soziologen und Philosophen Oskar | |
> Negt. | |
Bild: Der Sozialphilosoph Oskar Negt, aufgenommen am 12.12.2017 in seinem Arbei… | |
[1][Alexander Kluge, Jurist, SPD-Mitglied, Autorenfilmer], damals Mitte | |
dreißig, war im Mai 1968 in der Frankfurter Universität. Es herrschte | |
kreatives Chaos. Studenten hatten die zur Karl-Marx-Uni umgetaufte | |
ehrwürdige Institution besetzt, Türen waren zerbrochen. Die Studenten, so | |
Kluge, neigten „zu auf dem Konkurrenzprinzip fußenden, sich gegenseitig | |
steigernden radikalen Formulierungen“. Extremer geht immer – die fatale | |
Dynamik der akademischen Linken. Mittendrin hielt [2][Oskar Negt], damals | |
Assistent von [3][Jürgen Habermas], als ruhender Pol Vorlesungen über | |
Philosophie. „Er integrierte durch die Herstellung von Zusammenhang, nicht | |
durch Beschneiden“, so Kluge. | |
Die Neue Linke richtete sich bald darauf in einer Phantasiewelt ein, in | |
operettenhaften Reinszenierungen der Weimarer Republik mit einer imaginären | |
Arbeiterklasse. Negt tat das Gegenteil. Er veröffentlichte 1968 sein – wie | |
er fand – einflussreichstes Buch. „Soziologische Phantasie und | |
exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung“. Das war der | |
geglückte Versuch, Kritische Theorie mit Gewerkschaftsarbeit in der | |
Bundesrepublik der sozialliberalen Ära zu verbinden, die IG Metall mit | |
Adorno. Es war Ausdruck einer fundamentalen Überzeugung: Es geht darum, | |
lebendige Zusammenhänge herzustellen. Recht haben ist schön, aber | |
zweitrangig. | |
Während in Seminaren um die korrekte Auslegung von Gramscis Begriff des | |
organischen Intellektuellen gerungen wurde, gründete Negt in Hannover eine | |
experimentelle neue Schule, speiste seine Ideen in die gewerkschaftliche | |
Bildungsarbeit ein und war spiritus rector des „Sozialistischen Büro“. Das | |
war nicht nach Kadern, sondern nach Berufssparten organisiert, weil die | |
konkrete Erfahrung mit Arbeit im Zentrum stehen sollte. In den 70er und | |
80er Jahren verkörperte Negt jenen organischen Intellektuellen, nach dem in | |
den neuen Elfenbeintürmen sehnsüchtig gefahndet wurde. | |
Viele 68er wie [4][Hans Magnus Enzensberger] oder Peter Schneider beugten | |
sich später verwundert über das, was sie damals so gedacht hatten. Manche | |
wurden vor Schreck Konservative. Negt nicht. Er hatte nichts zu bereuen. Er | |
verfügte immer über ein klares politisches Unterscheidungsvermögen. 1972, | |
als viele Linke Gewalt für eine diskutable Möglichkeit hielten, kündigte er | |
der RAF jede Solidarität auf. Das erforderte, heute schwer vorstellbar, | |
Mut. | |
## Immer solide, nie genial | |
Negt war und blieb Marxist. Nicht in der eisernen, leninistischen Façon, | |
sondern in der flüssigen, offenen Art von Karl Korsch, einem mittlerweile | |
in Vergessenheit geratenen kommunistischen Philosophen. Negts Denken | |
kreiste um den Begriff Arbeit, den er aus den Verengungen der fordistischen | |
Fabrikgesellschaft und der „Wenn Dein starker Arm es will“-Bilderwelt | |
befreite und zu allen humanen Tätigkeiten öffnete, vor allem Bildung und | |
Wissensproduktion. | |
Er schrieb Dutzende Bücher, über Intellektuelle und Gewerkschaften, Europa | |
und Philosophie, die SPD und die Romantik, und seine Leitsterne Marx und | |
Kant. Ein Kritiker hat ihn als Theoretiker mal ungnädig mit einem Ackergaul | |
verglichen, zuverlässig, aber langsam. | |
Negt war als Denker immer solide, nie genial. Das war nicht schlimm – an | |
unsoliden Genies war in der Linken kein Mangel. Er war ein | |
Erfahrungswissenschaftler, mehr als ein Theoretiker. Ein Glücksfall war die | |
Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, dem Meister des Assoziativen. „Wir | |
arbeiten zusammen, weil wir unvereinbare Gegensätze sind“, schrieb Kluge | |
dazu gewohnt paradox. Geistiges Abenteurertum und Bodenständigkeit waren | |
bei dem Duo so klar verteilt wie bei Marx und Engels. | |
Das Opus Magnum erschien 1981: „Geschichte und Eigensinn“. Eine solch wilde | |
Collage von Theorie und Märchen, Wissenschaft und Comic, ein solches | |
Dickicht von Material hatte es noch nie gegeben. Gleichzeitig war das 1300 | |
Seiten Werk eine komplexe, konzentrierte Studie zu Negts immer | |
wiederkehrender marxistischer Frage: Woher stammte unser Arbeitsvermögen? | |
Der Leserschaft, die ebenso fasziniert wie verwirrt nach Halteseilen | |
suchte, beschieden die Autoren: „Mehr als die Chance, sich selbständig zu | |
verhalten, gibt kein Buch.“ | |
In den 80er Jahren formierte sich in Frankreich eine radikale Kritik der | |
Moderne und eine vehemente Aufklärungsskepsis, vertreten von [5][Foucault, | |
Deleuze, Derrida], die sich mit Habermas, dem Rationalisten, bekämpften. | |
„Geschichte und Eigensinn“ war in diesem Battle eine listige Antwort, die | |
quer zu allem stand. Sie löste gängige, sinnstiftende Erzählformen hin zu | |
radikaler Subjektivität auf, und doch waren Kluges kalter juristischer | |
Verstand und Negts Marxismus die Grundmelodie. Eine Art grundvernünftiger | |
Vernunftkritik. „Geschichte und Eigensinn“ blieb ein Solitär, ohne | |
Vorgänger und Nachfolger. | |
Oskar Negt stammte aus kleinen Verhältnissen. Er war ein Bildungsaufsteiger | |
mit unstillbarem Wissensdurst. Wer sein weiches, ostpreußisches Idiom | |
einmal gehört hatte, vergaß es nicht wieder. Er war 1945, noch als Kind, | |
mit seiner älteren Schwester aus dem Osten geflohen. Eine Odyssee am Rand | |
des Todes. In „Überlebensglück“ beschrieb er 2016, warum er das Grauen der | |
langen Flucht ohne Folgeschäden überstanden hatte. Ihn schützte das aus dem | |
Elternhaus stammende Grundvertrauen, das ihn befähigte, noch im Schrecken | |
Sinnvolles zu erkennen. | |
Sein Werk spiegelt diese Erfahrung wider. Es ist durchzogen von | |
historischem Optimismus, nie naiv, immer materialistisch begründet. Es | |
verströmt ein ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschlichen. | |
Es gibt immer eine Lösung. Oskar Negt ist am Freitag mit 89 Jahren | |
gestorben. | |
3 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Alexander-Kluge-wird-90/!5831147 | |
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[3] /Neues-Buch-von-Juergen-Habermas/!5878340 | |
[4] /Gedenklesung-fuer-Enzensberger/!5942434 | |
[5] /Buch-zur-Philosophie-der-Postmoderne/!5866651 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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