# taz.de -- Philosoph Oskar Negt im Interview: "Heimisch bei der IG Metall" | |
> Der Philosoph Oskar Negt hat die politische Linke in Deutschland seit | |
> seiner Studienzeit begleitet. Das war nicht immer erfreulich - für beide | |
> Seiten. Am Mittwoch ist Negt Gastredner bei den diesjährigen | |
> "Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit" an der Universität | |
> Oldenburg. | |
Bild: Trat mit 20 der SPD bei und wurde sechs Jahre später wieder ausgeschloss… | |
taz: Herr Negt, hinter Ihnen im Bücherstapel liegt ja Thilo Sarrazin, | |
"Deutschland schafft sich ab"! | |
Oskar Negt: Ja, ja. Da liegt er. | |
Wie kommt der da hin? | |
Der lag eines Tages im Briefkasten. Vom Verlag geschickt. Meine Frau und | |
ich hatten gesagt: Nee, den kaufen wir nicht. Aber wegschmeißen können wir | |
den jetzt auch nicht mehr. | |
Aber warum denn nicht? | |
Man muss auch diese Unterseite zur Kenntnis nehmen, diese verirrten Gefühle | |
und die Begriffsverwirrung. | |
Die Unterseite der politischen Welt? | |
Ja. Dort zeigt sich das, was ich "Realitätsspaltungen" nenne: Unter der | |
offiziellen Wirklichkeit braut sich ein kollektives Unheil zusammen. Wenn | |
Sie Privatgespräche belauschen, dann merken Sie eine Unzufriedenheit | |
darüber, dass etwa die Verfahrensrationalität in der Demokratie so | |
umständlich ist. Und das wäre noch nicht einmal so schlimm, wenn bei diesen | |
Verfahren etwas herauskäme, womit ich mich identifizieren kann, was | |
wirkliche Gesellschaftsreform bedeutete. | |
Da denkt man jetzt gleich an die Wut über den Stuttgarter Bahnhofs-Umbau. | |
Umbau? Abriss! Diese Wut und diese Entfremdung von den Institutionen sind | |
für mich Zeichen. Stuttgart ist ein kleines "Geschichtszeichen", wie Kant | |
das nennt. Dafür, dass die bestehende Realität morbide ist und in | |
Zersetzung begriffen. | |
Was zersetzt sich denn da? | |
Die Leute klagen über die Nicht-Anerkennung ihrer Person in demokratischen | |
Prozessen. Und viele resignieren, verzweifeln und ziehen sich ins Private | |
zurück. Das ist eine große Gefahr. Cicero spricht inmitten einer | |
gesellschaftlichen Umbruchsituation von der "res publica amissa" - der | |
vergessenen, vernachlässigten Republik. Alle Institutionen, alles | |
Offizielle sieht in Ordnung aus. Aber wenn Großfeldherren wie Caesar oder | |
Pompeius den Senat betreten, dann redet keiner mehr, dann schweigen alle. | |
Für Sie kein Vergleich zur Republik um 1968, oder? | |
Nein, es hat sich vieles geändert. Dass der Kapitalismus alle Chancen | |
wahrnimmt, sich an jedem Ort der Welt festzusetzen, ja vom Innern der | |
Subjekte Besitz zu ergreifen - das ist nichts Neues. Das steht schon im | |
Kommunistischen Manifest. Neu ist, dass er das auch kann. Dass er keine | |
Beißhemmungen und Barrieren mehr kennt. | |
Aber das ist doch ein Grund für Engagement, nicht für Rückzug! | |
Gewiss. Engagement hat jedoch Voraussetzungen. Demokratie kann nicht | |
existieren, wenn Ängste wach sind in der Gesellschaft. Und diese | |
Überlebensängste reichen bis tief ins Zentrum. Sie haben inzwischen auch | |
das mittlere Management erfasst. Viele Manager haben dieselbe Angst | |
entlassen zu werden wie Arbeiter. | |
Stuttgart 21 und auch Gorleben gelten aber vielen gerade als Rückkehr des | |
"politischen Menschen", den Sie in Ihrem neuen Buch fordern. | |
Ein politischer Mensch braucht aber mehr als solche Anlass-Öffentlichkeiten | |
wie Stuttgart 21 und Gorleben. Er braucht Orientierung, eine hinreichende | |
politische Bildung und Räume, in denen er demokratische Alltags-Erfahrungen | |
machen kann. Und er braucht stabile Bindungen. Aber die momentane | |
Flexibilisierungs-Strategie löst auch solche allmählich auf. | |
Bei Bindungen denkt man ja gleich an Familie, Nation, Religion. Machen das | |
die Konservativen besser: solche schönen, verlockenden Angebote? | |
Gute Frage. Und ein schwieriges Problem. Die Rechte schöpft tief aus einem | |
archaischen Urbestand von Bildern. Die politische Linke hatte dagegen schon | |
immer das Monopol auf Begriffe. Aufklärung ist etwas mager in der | |
Bilderwelt, und - in diesem Sinne - auch weniger überzeugungskräftig. | |
Jedenfalls in einer so stark illustrierten Welt wie der unsrigen. | |
Kommen wir einmal von der Theorie zur Praxis: Wenn man Ihr Buch liest, dann | |
rätselt man richtig, wie aus Ihnen selbst ein politischer Mensch werden | |
konnte. | |
Ist das so? | |
Eine Kindheit im Krieg und das Flüchtlingslager in Dänemark. Ein Abitur | |
1955 an der Oldenburger "Hindenburg-Schule", die mit Sicherheit noch | |
einiges an Hindenburgischem Gedankengut zu bieten hatte. | |
Allerdings! | |
Wo waren die Orientierungen, die politische Bildung und die Räume der | |
Demokratie? Wo waren die Bindungen? | |
Wissen Sie, ich komme aus einem absolut kuriosen Familienzusammenhang. Mein | |
Vater war Kleinbauer - aber ein politisch sehr bewusster Sozialdemokrat. | |
Ich habe gesagt, wenn ich 20 bin, trete ich der SPD bei. Das habe ich auch | |
getan. Sechs Jahre später bin ich allerdings wieder ausgeschlossen worden. | |
Wie lief das damals? | |
Ich und andere wollten damals die direkte Auseinandersetzung mit der | |
stalinistischen Denkweise suchen. Wir wollten die DDR-Doktrin mit der | |
Vorstellung vom Sozialismus konfrontieren, wie sie die Frankfurter Schule | |
verkörperte. | |
Klingt so weit noch recht harmlos. | |
Ja. Uns wurde das aber als Kooperation und Linksabweichung ausgelegt. Das | |
hat mich verletzt. Ich bin nie wieder in die SPD eingetreten. Die Hälfte | |
meiner Lebenszeit habe ich stattdessen bei den Gewerkschaften verbracht, | |
bei der IG Metall und beim DGB. | |
Um ihren Wurzeln treu zu bleiben, nehme ich an. Sie sagen, dass | |
Entwurzelung das große Übel für den politischen Menschen ist. | |
Das ist sie. Dieser Kapitalismus lebt von der Trennung der Menschen von | |
ihren Wurzeln. Dort, wo die Menschen Wurzeln geschlagen haben, verhalten | |
sie sich nicht alleine marktgerecht. Wo sich identitätsfähige | |
Persönlichkeitskerne gebildet haben, verlieren sie die allseitige | |
Verfügbarkeit. Sie sind weniger manipulierbar. | |
Es geht also um Charakter. | |
Gewiss. Und die andere Seite ist: Entwurzelte Menschen sind enttäuschbar | |
und nicht konstant an einem Gemeinwesen interessiert. Nur Menschen, die | |
zufrieden sind, die nicht unter Überlebensängsten leiden, verteidigen auch | |
den Lebensraum anderer. Menschen brauchen eine Heimat, so wie Bloch sie | |
verstanden hat. | |
Und wo ist Ihre eigene Heimat geblieben? | |
Ich will es so sagen: Es ist eine merkwürdige Sache in meinem Leben, dass | |
ich viel Glück gehabt habe. Aus dem beschossenen und total eingeschlossenen | |
Königsberg noch rauszukommen, einige Tage, nachdem die Gustloff bereits | |
untergegangen war, im Februar 1945. Das hatte viele geglückte Situationen | |
zur Voraussetzung. | |
Eine Flüchtlings-Biographie, wie sie heute Millionen erleben. Mit allen | |
Folgen. | |
Ja und nein. Wie gesagt, ich hatte auch Glück. Das fing in der Familie an. | |
Wir sind sieben gewesen, ich hatte fünf ältere Schwestern. Dadurch allein | |
hatte ich einen Beziehungsreichtum, der mich immer begleitet hat. | |
Heimat "to go" also. | |
Ernst Bloch hat von der Heimat als Utopie gesprochen. Heimat ist etwas, das | |
ein Versprechen enthält. Bloch verknüpft Demokratie und den politischen | |
Menschen mit der Aufhebung von Entfremdung. Er sagt: "So entsteht in der | |
Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und wo doch niemand war: | |
Heimat." | |
Und das macht mich politisch? | |
Heimat ist das Versprechen, dass ich zurückkehren kann. Wenn heute gesagt | |
wird, dass die Menschen flexibel sein müssen, dann fühlen sie sich ihrer | |
Sicherheiten, ihres verlässlichen Standortes beraubt. Aber eine gewisse | |
Standfestigkeit ist notwendig, wenn ich ein politischer Mensch sein will. | |
Hatten Sie selbst denn dann keine Schwierigkeiten? Als Sohn eines | |
Kleinbauern im elitären Frankfurt? Sie haben bei Adorno und Horkheimer | |
Philosophie studiert und auch promoviert. | |
Ich habe sie nie so elitär empfunden. Und in einem gewissen Sinne setzte | |
sich dort das Glück fort. Ich hatte damals ein Referat gehalten, über Marx. | |
Das hat Adorno sehr gelobt. Habermas als Assistent hat es korrigiert. Mehr | |
kannte er eigentlich nicht von mir. Aber ein Jahr später, als Habermas eine | |
außerordentliche Professur für Sozialphilosophie in Heidelberg erhielt, kam | |
er zu mir und wollte mich mitnehmen. Als seinen Assistenten. | |
Sie wirken heute noch etwas erstaunt. | |
Ich war jedenfalls so verblüfft, dass ich mir erst mal vier Wochen | |
Bedenkzeit ausbedungen habe. Als Habermas meinen Raum verließ, dachte ich: | |
Das war jetzt der Fehler meines Lebens - er kommt nicht ein zweites Mal! | |
Aber er kam wieder. | |
Konnten Sie sich zumindest in der Philosophie verwurzeln? | |
Es war ein wenig komplizierter. Gerade in Heidelberg, in der ersten Zeit, | |
mit Gadamer als Regionalfürst. Der hat mir zu verstehen gegeben: Der Negt, | |
der kommt aus der politischen Linken und steht der Arbeiterbewegung nahe - | |
der hat vielleicht nicht genug philosophischen Verstand. Das hätte 1962 | |
noch ein akademisches Todesurteil bedeuten können. | |
Hat es aber offenbar nicht. | |
Mich hat es angespornt, im philosophischen Nachdenken nicht nachzulassen. | |
Doch auch als ich etablierter war, habe ich mich an der Universität nie | |
wirklich heimisch gefühlt. Heimisch habe ich mich in der IG Metall gefühlt. | |
Kant und die IG Metall. Manche wären froh, wenn sie nur eins von beiden | |
verstünden. | |
Ja. Manchmal denke ich, ich bin der einzige Kopfarbeiter auf weiter Flur, | |
der in einem solchen Spannungsverhältnis tätig ist. | |
12 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Eike Freese | |
## TAGS | |
Philosophie | |
Schwerpunkt 1968 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Oskar Negt: Es gibt immer eine Lösung | |
Keiner hat die Kreativität und den historischen Optimismus der Neuen Linken | |
so verkörpert wir er. Zum Tod des Soziologen und Philosophen Oskar Negt. | |
50 Jahre Sozialistisches Büro: Undogmatische Linke | |
Unter den Formationen der Neuen Linken nach 1968 hob sich das | |
Sozialistische Büro als undogmatischer und intellektueller Ansatz hervor. |