# taz.de -- Oskar Negt wird 80: Vom Bohren harter Bretter | |
> Oskar Negt war früher Mentor der Studentenbewegung. Heute bildet er ein | |
> Missing Link zwischen traditioneller und Neuer Linker. | |
Bild: Oskar Negt im Jahr 2011 vor seiner heimischen Bibliothek in Hannover. | |
Wer in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zum Studieren nach Frankfurt kam, | |
musste „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas gelesen | |
haben. 1972 erschien „Öffentlichkeit und Erfahrung“, das sich wie eine | |
Fortsetzung las. | |
Geschrieben wurde es allerdings nicht von Habermas, der sich 1970 in sein | |
Forschungsinstitut an den Starnberger See zurückgezogen hatte, um seine | |
„Theorie des kommunikativen Handelns“ zu konzipieren. Autor war sein | |
ehemaliger Assistent aus Frankfurter Tagen, Oskar Negt, der im | |
Schriftsteller und Filmregisseur Alexander Kluge einen Partner gefunden | |
hatte. Gemeinsam gaben sie ihrem 490 Seiten starken, orangefarbigen Band | |
der edition suhrkamp ein neues Gepräge theoretischer Schriftstellerei. | |
Als Höhepunkt dieser neuen Art des Denkens und Schreibens, das den Weg aus | |
dem akademischen Elfenbeinturm bahnen sollte, muss der 1.283 Seiten dicke | |
blaue Band „Geschichte und Eigensinn“ (1981) gelten, der sich, bei | |
Zweitausendeins erschienen, als geheimer sozialwissenschaftlicher | |
Bestseller der achtziger Jahre entpuppte. | |
Dem hervorragenden Juristen Kluge gelang es 1987, mit dem | |
Talking-Head-Format DTCP einen Fuß in die Tür des neuen Privatfernsehens zu | |
stellen: Auf diese wundersame Weise gelangte Oskar Negt ins Netz, der | |
neuesten Form der Öffentlichkeit am Ende des Short Century. Die | |
Dekomposition der bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland mag man als | |
ein treibendes Motiv hinter Oskar Negts vielfältigen Versuchen erkennen, | |
unterdrückten Stimmen Gehör zu verschaffen. | |
Eine akademische Karriere war ihm nicht in seine Wiege gelegt worden, | |
geboren am 1. August 1934 in Königsberg. Negt stammt aus einem | |
handwerklich-sozialdemokratischen Milieu. Die Flucht aus dem Osten | |
verarbeitete er ressentimentfrei und produktiv wie nur wenige. Das mündete | |
in einer rationalen Kritik des CDU-Staates und in einem soziologisch | |
reflektierten Vorschlag zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit: | |
„Soziologische Phantasie und Exemplarisches Lernen“, entstanden 1964. | |
## Ohnmacht und Sektierertum | |
Oskar Negt als „68er“ zu bezeichnen, verkürzt den Sachverhalt. Als am 2. | |
Juni Benno Ohnesorg erschossen wurde, war er schon längst da. In einer | |
großen Rede auf dem Frankfurter Römer 1967 hat er die Gewaltverhältnisse | |
der Bundesrepublik auf den Punkt gebracht. Die Ohnmacht, mit Argumenten | |
eine autoritär strukturierte Öffentlichkeit zu durchdringen, motivierte die | |
Kampagne „Enteignet Springer“, die nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke | |
Ostern 1968 in bundesweiten Straßenkämpfen kulminierte. | |
Aufgrund der quasimonopolistischen Mediensituation in der Bundesrepublik | |
wurde Gegenöffentlichkeit zu einem zentralen Thema der nächsten zehn Jahre. | |
Während die radikale Linke nach 1970 sich durch eine fatale | |
Militanzkonkurrenz in sektiererische Kleinunternehmen von RAF bis KBW | |
zersetzte, versuchte Oskar Negt mit anderen überfraktionelle Möglichkeiten | |
der Kommunikation und politischen Praxis zu schaffen. Ein | |
gesellschaftliches Bedürfnis konnte jeder spüren, der die Entwicklung bis | |
zur „bleiernen Zeit“ 1978 erlebt hat. | |
Über ein Jahrzehnt war die von metropolitanen, linksradikalen Sektenführern | |
milde belächelte Zeitschrift links aus Offenbach ein Orientierungspunkt | |
nicht nur für Menschen, die sich mit nichts mehr identifizieren konnten, | |
sondern auch für links sympathisierende Autoren in den etablierten Medien. | |
Die taz ist 1978 aus dieser desaströsen westdeutschen Öffentlichkeit | |
hervorgegangen. Ein Stück Negt steckte auch in den Köpfen ihrer | |
Gründerinnen und Gründer. | |
## Negt als Missing Link | |
In den schlimmsten Konflikten Ende der 60er Jahre hat Habermas Negt als | |
Mentor der Studentenbewegung kritisiert. Das war er auch; sein politisches | |
Urteil wurde von Hans-Jürgen Krahl und Rudi Dutschke hoch geschätzt, | |
manchmal knirschend akzeptiert. Mit öffentlicher Kritik an seinem eigenen | |
Mentor Habermas hat er sich in Verteidigung der Protestbewegung in die | |
Nesseln gesetzt. Das von ihm herausgegebene Buch „Die Linke antwortet | |
Habermas“ (1968) hat Negt später bereut, vielleicht ebenso wie Habermas | |
seinen Linksfaschismusvorwurf von 1967. | |
In der Erinnerung bleibt Habermas’ treffende Bezeichnung Negts als Mentor. | |
In vielen Sachverhalten war Negt klüger als die Generation des SDS der | |
zweiten Hälfte der 60er Jahre. Aber sie waren auch zwanzig Jahre jünger. Im | |
Jahr 1970 zog er mit einer Gruppe von Frankfurter Schülern nach Hannover, | |
um dort ein neues Zentrum kritischer Gesellschaftstheorie zu begründen. In | |
der Glockseeschule wurde ein Frankfurter Experiment antiautoritärer | |
Erziehung weiterentwickelt. | |
Vielleicht könnte man Oskar Negt als Missing Link zwischen traditioneller | |
und Neuer Linker bezeichnen. Seine Herkunft aus der traditionellen | |
Arbeiterbewegung ist unbestritten; aber er hat im Laufe der letzten fünfzig | |
Jahre der deutschen Gewerkschaftsbewegung einen intellektuellen Input | |
gegeben. Ein offenes Ohr ist da nicht immer zu finden. Das heißt: Bohren | |
wirklich harter Bretter. | |
In einer Zeit, in der alle aufs Marketing zielen, ist Oskar Negt einer der | |
wenigen, die auf das Produktionsvermögen achten. Obwohl sich die | |
Gesellschaft nach 1990 in eine andere Richtung entwickelt hat, bleibt der | |
Kampf um weltweite Veränderung der Arbeitsbedingungen so wichtig wie im | |
England des 19. Jahrhunderts. Menschen, die aus der Spannung von geistiger | |
und körperlicher Arbeit ihre intellektuelle Inspiration finden, sind selten | |
geworden. Oskar Negt ist einer davon. Am 1. August 2014 wird sein 80. | |
Geburtstag mit einem großen Fest in Hannover begangen. | |
1 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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Studentenbewegung | |
Roman | |
Jürgen Habermas | |
Schwerpunkt 1968 | |
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