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# taz.de -- Historiker über Linksalternative: „Zwang, sich selbst zu verwirk…
> Sven Reichardt hat über die Erfolge, aber auch die Desillusionierung der
> linksalternativen Bewegung geforscht. Sie sei Teil eines Wandels gewesen,
> sagt er.
Bild: Hippies in San Francisco, 1970. Die in Stuttgart sahen bestimmt genauso a…
sonntaz: Herr Reichardt, warum noch ein Buch über die Westlinke?
Sven Reichardt: Es ist kein Buch über Studentenbewegung, Terrorismus und
K-Gruppen. Das sind gründlich ausgeleuchtete Felder. Ich habe
Lebenswirklichkeit und Alltag der Linksalternativen untersucht – und das
ist neu.
Wie groß war diese Szene?
Die alternativen Netzwerke aus Buchläden, Kommunen, selbst verwalteten
Betrieben waren eher überschaubar. Es gibt in etwa eine Million Menschen,
die irgendwie darin aktiv waren. Interessant ist, dass Mitte der 70er Jahre
85 Prozent der Jüngeren bis 25 Jahre mit dieser Lebensform sympathisieren.
Das zeigt, dass diese Bewegung viel mehr Einfluss auf die Bundesrepublik
hatte als etwa die maoistischen K-Gruppen, die etwa 60.000 Mitglieder
hatten. Gesellschaftliche Strahlkraft entfalteten nur die
Linksalternativen. Weil sie etwa bei Kindererziehung und
Geschlechterverhältnissen neue Formen ausprobierten.
Joschka Fischer hat 1977 geschrieben: „Uns treibt nicht mehr der Hunger
nach Essen, sondern nach Freiheit, Liebe, Zärtlichkeit, anderen Lebens- und
Arbeitsformen.“ War dies in aller Vagheit das Programm der
Linksalternativen?
Ja, in etwa. Das Bemerkenswerte ist, dass sie damit, trotz der schroffen
Gegnerschaft zum Staat, anschlussfähig an den bundesrepublikanischen
Mainstream waren. Denn die Bundesrepublik verwandelt sich in dieser Zeit
von einer Industrie- in eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Das
sind komplexe Prozesse: Konsum und Medien werden wichtiger. Und die
Selbstbilder verschieben sich. Autonomie, Selbstverantwortung und
Selbstverwirklichung sind die neuen Werte, nicht mehr Pflicht oder
Gehorsam. Das linksalternative Milieu ist Teil dieses Wandels.
Inwiefern?
Es ist zum Beispiel stark akademisch geprägt und insofern Trendsetter in
Richtung Wissensgesellschaft. Die Alternativbetriebe arbeiten überwiegend
im Dienstleistungssektor. Die Szene versteht sich selbst zwar als
Gegenentwurf zu der bürokratisierten, kalten Welt von Staat und
entfremdeter Arbeit, aber ist zugleich Teil der bundesrepublikanischen
Gesellschaft. Man wehrt sich gegen die vermachtete Welt.
War die Bewegung so politisiert, wie es schien?
Es gibt Hinweise, dass die linke Theorieorientierung überschätzt wurde.
Aufschlussreich ist, dass 70 Prozent der Leser der Alternativmedien diese
Zeitschriften wegen der Klein- und Kontaktanzeigen kauften, nicht wegen der
Texte über klassische Politik. Politisch verstanden wurden aber auch die
privaten Verhältnisse und Vorlieben.
Wie präsentiert sich der oder die Durchschnittslinksalternative in
Kontaktanzeigen?
Es ist der linksalternative Mann – Kontaktanzeigen von Frauen sind in zitty
oder dem Pflasterstrand genauso selten wie in bürgerlichen Medien.
Ironisch, selbstzerknirscht und unglücklich war der Grundtenor dieser
Annoncen.
Zum Beispiel?
„Depressiver, sensibler, fast total geschaffter Typ sucht zum Aufbau einer
längerfristigen fruchtbaren Zweierbeziehung verständnisvolles weibliches
Wesen.“ Das war die erste Kontaktanzeige, die im Frankfurter Pflasterstrand
erschien. Kontaktanzeigen waren eigentlich verpönt, weil man sie für
Kommerz hielt. Aber der Leidensdruck war offenbar zu groß. Vor allem im
Geschlechterverhältnis strebten die Linksalternativen nach völliger
Neuerfindung. Man lehnte die Ehe, oft feste Beziehungen, als alte
Rollenbilder ab. Aber der Alltag blieb weit hinter dem Glücksversprechen
der sexuellen Befreiung zurück.
Sie befassen sich in Ihrem Buch auch knapp mit der 2013 skandalisierten
Offenheit der Linksalternativen gegenüber Pädophilen.
Das ist als Teil dieses Freiheitsversprechens zu deuten, in scharfer
Abgrenzung zu bürgerlichen Normen und dem als repressiv empfundenen Staat.
Die Kinder waren Projektionsflächen der Freiheits- und
Authentizitätsvorstellungen der Erwachsenen.
War Selbstüberforderung ein Charakteristikum der Linksalternativen?
Es gab den Stress, sich selbst zu entwerfen, eine Art Zwang zur
Selbstverwirklichung. Das wurde als auch als Überforderung empfunden –
gerade bei Sexualität, die enorm mit dem Versprechen von Befreiung
überladen wurde. Die Nachtseite der Selbstverwirklichung ist ein Zwang zur
Selbstenthüllung und zum Geständnis. Man muss sich dauernd rechtfertigen
und selbst zum Thema machen. Das meint ja der Slogan von der Politik in der
ersten Person.
Wie viele Leute haben in den Alternativbetrieben gearbeitet?
Ungefähr 200.000.
Inwiefern kann man die als Keimzelle des postmodernen Jobbers in der New
Economy verstehen? Denn flache Hierarchien, Selbstoptimierung und
Selbststeuerung, auch Selbstausbeutung finden sich ja hier wie dort.
Das ist die These der Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrer
Studie „Der neue Kapitalismus“. Das ist in Teilen sicher richtig, aber es
gibt auch viele Unterschiede. Der Anspruch, dass alle alles machen, dass
alles allen gehört, dass alle gleich viel verdienen und alles gemeinsam
entschieden wird – das kennzeichnet Alternativbetriebe, aber nicht die
Start-up-Unternehmen der 90er. Außerdem zeigen Umfragen, dass in
Alternativbetrieben nicht endlos gearbeitet wurde. Und viele waren auch
ökonomisch erfolglos.
Ist die alternative Selbstausbeutung eine Legende?
Bei der Bezahlung nein. Was die Arbeitszeiten angeht, ja. Viele haben nur
38 Stunden in der Woche gearbeitet. Nur wenige Aktivisten haben ihre ganze
Freizeit diesen Projekten geopfert.
Manche Beobachter haben die linksalternative Szene, die durch wenig formale
und viele informelle Hierarchien geprägt war, retrospektiv als
Trainingscamp von Neoliberalismus und Individualisierung gedeutet.
Ich bin bei solchen Großraumthesen skeptisch. Wenn man sich Karrieren wie
die des Ex-Alternativen Matthias Horx anschaut, kann man darauf kommen.
Aber das Egalitäre und Kollektive war eine alternative Lebenspraxis. Das
macht es schwierig, die Szene als Avantgarde der Individualisierung zu
deuten. Es war eher die alternative Art von Vergemeinschaftung.
Wo haben die Linksalternativen denn am meisten Prägekraft entwickelt: bei
Geschlechterverhältnis, Kindererziehung, Arbeit, Medien?
Überall. Nicht zu vergessen den Trend zur Selbstthematisierung. Das ist
heute in Mainstream-Medien an der Tagesordnung und wurde in der Szene
vorweggenommen. Generell gilt, dass keiner dieser Tendenzen in der
Alternativszene erfunden wurde, auch die antiautoritäre Erziehung nicht.
Aber die Bewegung radikalisierte, politisierte und dramatisierte diese
Trends.
Das heißt konkret?
Die Scheidungsraten schnellten schon vor 1968 hoch. Die Krise der
kleinbürgerlichen Familie war da längst Realität. Es gab auch vor 1969
schon Patchworkfamilien und serielle Monogamie. Die Linksalternativen
katalysierten das und setzten es gesellschaftlich durch.
War das linksalternative Projekt eigentlich ein Erfolg?
An ihren eigenen politischen Ansprüchen gemessen, nicht. Aber sie haben die
Bundesrepublik verändert.
Gibt es die Linksalternativen noch?
Wenn die taz das schon fragt, scheint es da wenig Hoffnung zu geben. Selbst
verwaltete Buchläden, früher Markenzeichen des Milieus, sind selten
geworden. Die Alternativbetriebe sind professioneller, kommerzieller,
unpolitischer geworden. Oder pleitegegangen.
Ist die Szene einfach älter und bürgerlicher geworden – oder sind die
Linksalternativen an ihrem Erfolg gescheitert, indem sie den Mainstream
verändert haben?
Beides. Und es sind schlicht Erfahrungen gemacht worden, etwa, dass
Ausdiskutieren Grenzen hat und dass befreite Sexualität ohne Eifersucht und
Neid eine Illusion ist. Es ist also eine Erfolgsgeschichte und die einer
Desillusionierung. Und es war ein Generationsprojekt. Das zeigt sich schon
in den 80er Jahren, als die Punks auftraten, die mit Ausdiskutieren und dem
Authentizitätsideal der Alternativen nichts am Hut hatten. Die Punks sind
männlicher, schneller, nicht utopisch.
Ein Erzählmuster lautet: Die Linksalternativen haben die Republik
entrümpelt und liberalisiert. Einverstanden?
Zum Teil. Es gibt zwei konkurrierende Deutungen. Auf der einen Seite Jürgen
Habermas’ These, dass die Post-68er die Fundamentalliberalisierung der
Bundesrepublik bewirkt haben, auf der anderen Seite die 68er-Kritik von
Götz Aly. Die Linksalternativen haben pluralen Lebensweisen zum Durchbruch
verholfen – aber es gab auch totalisierende Tendenzen bei ihnen. Etwa das
Konzept, dass das Private politisch ist, und der Bekenntniszwang.
Wo bleibt eigentlich die Ironie?
Inwiefern?
Die 68er waren pathetisch, die Linksalternativen zehn Jahre später nicht
mehr. Sie waren ironisch. Sie wussten ja, dass nach der
Selbstbefreiungsrhetorik die Frage kommt: Wer spült heute?
Aber es war nicht alles Ironie und Hedonismus. Es gab auch viel echtes
Unglück, Scheitern an den eigenen Idealen, Verbitterung, Desillusionierung.
18 May 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt 1968
Westdeutschland
68er
Jürgen Habermas
Jürgen Habermas
NGOs
Ökologie
Detroit
Schwerpunkt Volker Beck
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