| # taz.de -- 50 Jahre „Summer of Love“: Von den Hippies lernen | |
| > Linke müssen mehr tun, als Blödsinn von rechts zu kontern. Sie brauchen | |
| > wieder eine eigene Utopie. Und müssen ihren moralischen Anspruch stärken. | |
| Bild: San Francisco, 1967: Demonstration gegen den Vietnamkrieg | |
| Der Summer of Love war nicht nur ein großes Straßenfest, er war eine | |
| elektrisierende Verheißung des Glücks in einer Zeit, in der schon eine | |
| halbe Million Amerikaner in Vietnam kämpften und Massendemonstrationen in | |
| den USA nach Tränengas rochen. In San Francisco wurde eine Utopie | |
| vorgelebt. | |
| Um erlöst zu werden, reichte der Wunsch, dabei zu sein. Man musste nur die | |
| Einberufungspapiere verbrennen oder den Büstenhalter – die Brücken zur | |
| bürgerlichen Welt. Zehntausende junge Menschen strömten nach Kalifornien. | |
| Im Herzen dieser Gegenkultur war eine tiefe Verweigerungshaltung: gegen die | |
| Kleidungsnorm, gegen die bürgerliche Arbeit, gegen die Kleinfamilie. | |
| Die Hippies trauten sich 1967, was sich die Linken heute nicht mehr trauen: | |
| Sie formulierten eine Vorstellung davon, wie eine andere Gesellschaft | |
| aussehen könnte, und begannen sofort, die Veränderung zu leben. Heute, | |
| spätestens seit Donald Trump US-Präsident ist, haben sich Linke in eine | |
| Verteidigungshaltung drängen lassen. Als progressiv gilt die Forderung, am | |
| Errungenen festzuhalten, die alte Ordnung gegen das Chaos von rechts | |
| verteidigen. Wir können also von den Hippies lernen. | |
| ## Gegen die protestantische Ethik | |
| Es war nicht so, dass die gelebte Utopie von San Francisco in den sechziger | |
| Jahren augenblicklich zu einem gesellschaftlichen Wandel geführt hätte. Die | |
| Hippies wurden von der Mehrheit als Bedrohung wahrgenommen. Amerikas | |
| Konservative glauben bis heute, die Hippie-Bewegung sei schuld am | |
| Niedergang der USA. | |
| Dem Harvard-Soziologen Daniel Bell war unmittelbar nach dem Summer of Love | |
| klar, dass der Protest in San Francisco die protestantische Ethik – das | |
| Motivationssystem, das laut Max Weber konstitutiver Bestandteil des | |
| modernen kapitalistischen Geistes ist – zu Grabe trägt. Bell sorgte sich | |
| vor allem um die Arbeitsmoral der vom Hippie-Hedonismus verführten | |
| Arbeiterklasse. Und er sorgte sich um das Erbe von Amerikas puritanischen | |
| Gründervätern, die einst in Neuengland Apfelbäume gefällt hatten, damit die | |
| Arbeiter vom Apfelwein nicht trinksüchtig wurden. | |
| Die Hippie-Bewegung knüpfte durchaus an Traditionen an. Zwar nicht an | |
| protestantische – aber es gibt Verbindungen zur Lebensauffassung von Sankt | |
| Franziskus, dem Namensgeber der Hippie-Hauptstadt. Wie bei den Hippies war | |
| auch sein Leben von der Erfahrung einer privilegierten Herkunft und dem | |
| Horror des Kriegs geprägt. Franziskus’ Vater war ein reicher Tuchhändler | |
| aus Assisi, er wollte, dass sein ältester Sohn die Geschäfte weiterführte. | |
| Franziskus aber hatte an einem Krieg gegen die Stadt Perugia teilgenommen, | |
| danach wollte er nicht mehr Kaufmann oder Ritter sein, sondern ein Leben im | |
| Dienst der Menschen und Tiere führen. | |
| ## Schwäche statt Kraftmeierei | |
| Im Jahr 1207, als sein Vater gegen ihn vor Gericht zog, entkleidete sich | |
| Franziskus auf dem Domplatz von Assisi und entsagte seinem Erbe. Bei den | |
| Hippies lässt sich viel von Franziskus’ Protest wiederfinden: 750 Jahre | |
| später inszenierten sie im Zentrum des Reichtums und der Rationalität einen | |
| hochemotionalen Bruch, eine Entrückung und Nachahmung Christi. Eine Kultur | |
| der Schwäche. | |
| Letzteres ist in der linken Kultur des Westens alles andere als üblich, | |
| denn sie wurde um die wachsenden Zahl der Industriearbeiter gebaut. Linke | |
| Kultur ist traditionell eine der Stärke und der Rationalität, die die | |
| Vorteile des bürgerlichen Lebens für alle einfordert und sich selbst als | |
| historische Kraft auf der Überholspur versteht. Die Gegenkultur der Hippies | |
| nahm ihre Kraft aus der selbstgewählten Schwäche. Der SPD oder der | |
| Linkspartei hingegen haftet immerzu etwas Kraftmeierisches und | |
| Besserwisserisches an, was in den Zeiten von Marx, Engels oder Rosa | |
| Luxemburg gerechtfertigt war, in unseren Zeiten aber eher schal und | |
| verloren wirkt. | |
| Spätestens seit Donald Trump Präsident der USA ist, ist das Festhalten des | |
| linksliberalen Spektrums an der staatstragenden Rationalität zu einem | |
| Problem geworden. Die Linken sind grundkonservativ, während sich die | |
| Rechten an der ehemals linken Gegenkultur bedienen. Inzwischen sind wir so | |
| weit, dass die Linke von Trump lernen kann: Trump, der reiche Bürgersohn, | |
| gibt sich als einer aus, der sein bequemes Leben für Dienst an der | |
| Arbeiterklasse aufgegeben hat. Er trägt seinen Dilettantismus zur Schau, | |
| sein Basecap erinnert an die Turnschuhe der ersten Grünen im Bundestag. | |
| Oft genug haben reaktionäre Kräfte sich bei der Kultur der Linken bedient, | |
| etwa die Nationalsozialisten bei der Arbeiterkultur oder die großen Firmen | |
| des Silicon Valley bei der Hippie-Bewegung, als diese anfingen, ihre | |
| Produkte mit digitalem Utopismus zu bewerben. Heute muss die Linke ihre | |
| eigene Kultur wieder zurückgewinnen. Sie muss einen neuen Zugang zur | |
| politischen Praxis für junge Wähler finden. | |
| ## Das Moralische muss wieder stark werden | |
| Statt des Technokratischen muss das Spielerische, Amateurhafte und | |
| Rebellische im Vordergrund stehen. So gesehen war die Piratenpartei auf dem | |
| richtigen Weg, bevor die Basisdemokratie sie lähmte und kaputt machte, so | |
| wie die Basisdemokratie auch schon so viele von den 10.000 Landkommunen | |
| zerstörte, die nach dem Summer of Love in Amerika gegründet worden waren. | |
| Gleichzeitig muss der moralische Anspruch viel höher sein. Die Gegenkultur | |
| von heute kämpft am liebsten gegen die Windmühlen eines oft genug | |
| dahinsiechenden Staates und erwartet dabei, dass der uns aus dem | |
| neoliberalen Niedergang herausführt. Stattdessen scheint es, als sei das | |
| Volk den Politikern voraus: Die Grünen kämpften um ihren dämlichen | |
| Veggie-Day, während die jungen Menschen auf vorher nie gesehene Weise von | |
| Vegetarismus überzeugt, ja beseelt sind. Aus Angst vor der Mehrheit gehen | |
| die Grünen nicht offensiv mit ihren Anliegen um – im Gegensatz zu den | |
| Hippies damals, die ihre schlichten Ideen zur Schau getragen haben. | |
| In einer technokratischen Kultur zählen nur Kompetenz und Effizienz, aber | |
| die Linke muss wieder den moralischen Charakter des Menschen in den | |
| Mittelpunkt stellen, wie einst Franziskus. Sie muss eine Utopie | |
| formulieren, das gesellschaftliche Kollektiv wieder im Leben verankern – | |
| etwa in einer neuen Sozialdienstpflicht. Ein Dienstjahr, in dem Jugendliche | |
| aus den sozial polarisierten Schulen zusammengebracht werden. | |
| Man könnte auf die Initiative des Politologen Harald Hentrich | |
| zurückgreifen, der vorschlägt, dass junge EU-Bürger eigene Dörfer bauen und | |
| verwalten und so ein Netz von Europaorten entsteht. Wer solche Ideen laut | |
| formuliert, wird von seinem Gegenüber schnell belächelt. Vielleicht auch | |
| als Hippie beschimpft. Aber das ist schließlich keine Beleidigung. | |
| 3 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Anjana Shrivastava | |
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