| # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Gefangen im Hier und Jetzt | |
| > Geben linke Erzählungen die falschen Zukunftsversprechen? Oder fehlt | |
| > ihnen eher die Zukunftsperspektive? | |
| Bild: Reicht Bewegung gegen rechten Populismus? | |
| Alle rufen heute nach einer neuen „großen Erzählung“ – eine, die wieder | |
| fasziniert, mitreißt, packt. Eine solche Erzählung soll die Lösung der | |
| Probleme sein. Sie soll der Linken wieder Aufschwung verschaffen. Aber | |
| merkwürdigerweise verhallt dieser Ruf immer unbeantwortet. Wo bleibt sie, | |
| diese große Erzählung? Es will sich keine einstellen. | |
| Vielleicht liegt das Problem ja in der Fragestellung. Der Ruf nach einem | |
| neuen Narrativ versteht sich als Ruf nach neuen Inhalten. Liegt das Problem | |
| aber nicht viel eher im Funktionieren? Die linken Inhalte sind ja da. | |
| Gerechtigkeit. Gleichheit. Auflehnung. Gegen Unterdrückung. Gegen | |
| Ungerechtigkeit. Emanzipation. Die großen Erzählungen sind ja da. Aber sie | |
| funktionieren nicht mehr. Die Inhalte packen die Leute nicht mehr. Sie | |
| glauben nicht mehr daran. Das aber ist ein anderes Problem als das Fehlen | |
| einer Erzählung. Und es ist ein Problem, das nicht einfach durch andere | |
| Inhalte gelöst werden kann. | |
| Die mangelnde Überzeugungskraft wirft eher ein Licht auf die Gesellschaft | |
| als auf die Erzählung. Diese Gesellschaft lebt im Zustand einer völligen | |
| Immanentisierung: Sie lebt umfassend, unüberschreitbar im Hier und Jetzt. | |
| Ohne Vorstellung eines anderen Zustands. Nicht weil es keine politische | |
| Fantasie mehr gäbe. Nicht weil keine Utopien mehr vorhanden wären. | |
| ## In einer profanen Gegenwart leben | |
| Aber politische Utopien sind getragen von einem säkularen Glaubensmoment. | |
| Etwa dem Glauben an ein Ziel der Geschichte oder dem heroischen Glauben an | |
| die eigene Handlungsmacht. Die Politik hat sich dieser säkular-religiösen | |
| Aufladung entledigt. Politik ist tatsächlich säkular geworden. So wie auch | |
| unsere Gesellschaften zutiefst säkular sind. Also in einer profanen | |
| Gegenwart leben. (Der religiöse Fundamentalismus ist nur die Abwehr eben | |
| dieser Säkularisierung.) | |
| Damit aber fehlt allem politischen Handeln, allen politischen Konzepten die | |
| Dimension der Transzendenz – im Sinne eines Überschreitens der Gegenwart, | |
| im Sinne einer Zukunftsperspektive, die doch die genuin linke Perspektive | |
| gewesen ist. | |
| Und da kommt jetzt der rechte Populismus rein. Das ist ja jene Erzählung, | |
| die derzeit zu greifen scheint. Warum funktioniert die populistische | |
| Erzählung? | |
| ## Keine säkulare Religion | |
| Das Interessante am Phänomen des Populismus ist, dass dieser eben keine | |
| säkulare Religion ist, wie es etwa der Faschismus gewesen ist. Der | |
| Faschismus funktionierte ja über eine Sakralisierung der Politik: mit | |
| seinen Kulten, seinen sakralen Aufladungen. Warum aber ist der Populismus | |
| keine säkulare Religion? Der rechte Populismus mag viele Anleihen beim | |
| Faschismus nehmen – nicht aber bei dessen säkularer Religiosität. | |
| Der Populismus agiert punktgenau in einer Gesellschaft, die eben nicht mehr | |
| religiös gestimmt ist. Er agiert in einer gänzlich säkularen, in einer rein | |
| profanen Gesellschaft. Und er hat das gefunden, was in dieser | |
| Innerweltlichkeit noch wie ein Transzendenzersatz funktioniert: die | |
| Ausgrenzung der „Anderen“. Dies ist nichts, was uns tatsächlich aus der | |
| gegebenen Welt hinausführen würde. Aber die Ausgrenzung gibt vor, das | |
| abzuwehren, was unsere Immanenz zu bedrohen scheint. Was der Populismus nun | |
| gegen diese vermeintliche Bedrohung in Stellung bringt, ist eben nichts, | |
| was ein transzendentes Moment hätte. Kein glorreiches Zukunftsversprechen. | |
| Es spielt sich alles im Hier und Jetzt ab. Auch Trumps Slogan „Make America | |
| great again“. Das ist kein Versprechen für die Zukunft. Es ist vielmehr die | |
| unmittelbare Bekräftigung der eigenen Stärke. Gefühlt war America schon in | |
| Trumps Veranstaltungen great again. Das hat mehr etwas von einer | |
| Selbsterfahrungsgruppe, denn von einer säkularen Religion. | |
| ## Reine Innerweltlichkeit | |
| Die Frage nach der großen Erzählung ist also nicht die Frage nach den | |
| fehlenden Inhalten, die packen. Es ist die Frage nach dem Namen, unter dem | |
| man sich vereinen, der ein kollektives Handeln herstellen könnte. Ein Name, | |
| der eben nicht jener der Nation ist. Ein Name, der Identität verleiht. Und | |
| Würde. Ein Name, der also jene Ermächtigung bereitstellt, an der es mangelt | |
| – und der dabei die Gegebenheit der reinen Innerweltlichkeit | |
| berücksichtigt. | |
| Würde, schreibt Eribon, käme aus dem Kampf, nicht aus dem passiven | |
| Verwaltetwerden. Mit dem Populismus ist uns jetzt ein neuer Feind | |
| erwachsen. Können wir daraus, aus dessen Abwehr, unsere politische | |
| Handlungsmacht wiedergewinnen? Wenn, dann wird, dann muss es eine andere | |
| Handlungsmacht als die alte sein. | |
| 1 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
| ## TAGS | |
| Populismus | |
| Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
| 68er | |
| Rechtspopulismus | |
| Populismus | |
| Klassenkampf | |
| USA | |
| Didier Eribon | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| 50 Jahre „Summer of Love“: Von den Hippies lernen | |
| Linke müssen mehr tun, als Blödsinn von rechts zu kontern. Sie brauchen | |
| wieder eine eigene Utopie. Und müssen ihren moralischen Anspruch stärken. | |
| Debatte Rechtspopulismus in Europa: In die Identitätsfalle getappt | |
| Die Rechten brachten den „kleinen Mann“ zurück in die Politik. Die Linke | |
| hat darauf keine Antwort. Eine Replik auf Christian Volks taz-Essay. | |
| Kulturelle Strategien gegen Rechts: Der Eigensinn der Ästhetik | |
| Kulturschaffende sollten in Zeiten des Populismus politisch handeln. | |
| Diskussionen bringen mehr als trotzige Verweigerungsgesten. | |
| Kolumne Knapp überm Boulevard: Nur ideologisches Zuckerbrot | |
| Political Correctness wird den Linken oft zum Vorwurf gemacht. Sie sei | |
| narzisstisch, moralistisch und lähme den Klassenkampf, also den richtigen. | |
| Kolumne Knapp überm Boulevard: Österreichische Avantgarde | |
| Die Alpenrepublik ist der rechtspopulistische Vorreiter in Sachen | |
| Wahlanfechtungen. Die Wähler sehen Demokratie nur noch als Elitenprojekt. | |
| Kolumne Knapp überm Boulevard: Der linke Konservatismus | |
| Der Philosoph Slavoj Žižek ärgert sich über den Hillary-Konsens. Den | |
| Soziologen Didier Eribon dürfte er weniger stören. Das liegt an seiner | |
| Haltung. |