# taz.de -- Was Hippies und Cyberkultur verbindet: „Wir wollten den Geist erw… | |
> Auf der Suche nach Alternativen entdeckten die Hippies auch Computer für | |
> sich. Howard Rheingold über Lichtpunkte und Psychedelik, Steve Jobs und | |
> LSD. | |
Bild: Die Erde geht auf – ein bewusstseinserweiternder Anblick: 1967 gab es e… | |
taz.am wochenende: Herr Rheingold, vor 50 Jahren gingen Zehntausende junge | |
Menschen nach San Francisco. Sie selbst sind 1968 dort angekommen. Was hat | |
Sie an der Stadt fasziniert? | |
Howard Rheingold: Ich war auch in den Jahren zuvor oft dort. Und schon als | |
Schüler kam ich gelegentlich aus Phoenix mit dem Bus in die Stadt, das war | |
zum Höhepunkt der Beatnik-Zeit. Es gab diesen Club, The Blackhawk. Einer | |
der wenigen Orte in Amerika, in denen man als Minderjähriger Jazz hören | |
konnte, denn sie hatten einen Maschendrahtzaun um den Bereich gezogen, in | |
dem Alkohol ausgeschenkt wurde. | |
Wofür stand die Stadt? | |
Nach San Francisco zu fahren bedeutete für mich als Teenager, etwas zu | |
erleben, das häufig aus den Analysen ausgeblendet wird: die Desegregation | |
der Musik. Als weiße Kids zum ersten Mal schwarze Musik hörten, begann das | |
Eis zu schmelzen. Zu der Zeit wuchs die Bürgerrechtsbewegung und mit ihr | |
das Bewusstsein, dass etwas sehr falsch lief in Amerika. Im Gegensatz zu | |
dem, was man uns beigebracht hatte, war es eben nicht das Land of the free, | |
sondern es gab Ungerechtigkeiten und Gewalt. | |
Den Wunsch nach einer anderen, besseren Gesellschaft hatten viele Hippies. | |
Sie müssen bedenken, gegen was die Gegenkultur stand: gegen die | |
uniformierten, sittenstrengen und sehr selbstbewusst auftretenden 1950er. | |
Einen bedeutenden Einfluss hatte damals [1][der Whole Earth Catalog], der | |
ab 1968 mehrmals im Jahr erschien. Er war ein Zentralorgan der Gegenkultur | |
und richtete sich ursprünglich an all die Leute, die Landkommunen starten | |
wollten. | |
Der Whole Earth Catalog war eine Mischung aus Produktkatalog für den | |
täglichen Bedarf von Kommunenbewohnern und Denkschrift. Was war seine | |
Botschaft? | |
Dass wir nicht auf die ferne Regierung, die fernen Unternehmen, oder ferne | |
Religionen vertrauen können, sondern es selbst in die Hand nehmen sollten. | |
Denke für dich selbst. Eine Riesensache! Die Idee, dass wir Dinge auf eine | |
neue Art zusammen bewerkstelligen könnten, wurde Teil des Zeitgeists. | |
Stewart Brand, der den Whole Earth Catalog erfunden und herausgegeben hat, | |
prägte auch den Begriff des Personal Computers. Daran denkt man nicht | |
wirklich als Erstes, wenn man an Hippies denkt. Wie war das Verhältnis der | |
Leute zu Technologie damals? | |
Computer waren in ihnen Anfängen überhaupt kein Teil der Gegenkultur. Sie | |
waren damals ja noch riesig, und generell verstanden wir Computer als | |
menschenferne, hegemoniale Maschinen des Verteidigungsministeriums oder des | |
Big Business. Aber die Idee, dass Individuen sie nutzen könnten, dass wir | |
sie uns als Werkzeuge für persönliche Verwendung anzueignen, wurde immer | |
größer. Und es gab das Human Potential Movement: Im Prinzip zielte es | |
darauf ab, dass unser menschliches Bewusstsein viel größer sei als der | |
Teil, den wir zu nutzen gelernt hatten. In uns schlummern Fähigkeiten, die | |
man kultivieren, ausdehnen, vermehren könnte. Dafür Technologie zu | |
verwenden, passte genau zum Human Potential Movement. | |
Es ist auch als New Age bekannt und zieht ziemlich in die esoterische Ecke. | |
Aber nicht nur. Immerhin war Eigenständigkeit eine grundamerikanische Idee | |
– jetzt gaben die Hippies der Eigenständigkeit eine andere, vielleicht auch | |
praktisch erfahrbare Perspektive. | |
Ließen sich davon die meisten überzeugen oder gab es eine ambivalente | |
Haltung gegenüber Computertechnik? Gab es Widerstand oder Protest? | |
Klar, es gab ein Schisma zwischen den „Zurück aufs Land!“-Leuten und den | |
„Interessante neue Tools!“-Leuten. Aber das Geniale am Whole Earth Catalog | |
war eben, dass es nicht monolithisch war, sondern ein Netzwerk der | |
Netzwerke – genau wie das Internet später ein Netzwerk der Netzwerke werden | |
sollte. Es gab die Umweltfraktion, die Menschen, die sich für | |
Gemeinschaftsformen interessierten, natürliche Geburten, für Tools, | |
Technologie. Der Catalog brachte all diese Gruppen zusammen. In den späten | |
1960ern verkörperte er für mich die Ethik, die Gegenkultur und Cyberkultur | |
verbanden. | |
Wie sind Sie eigentlich selbst zum ersten Mal mit dem Personal Computer in | |
Kontakt gekommen? | |
Ich war Autor. Zehn Jahre lang hatte ich eine Schreibmaschine, ein Telefon | |
und ein Bibliotheksausweis. Als ich von den ersten PCs hörte, erzählte | |
jemand, dass man damit schreiben könne. Auf einem Bildschirm! Man musste | |
die Seiten nicht neu abtippen, wenn man sie mit Korrekturen vollgeschmiert | |
hatte. Das hörte sich toll an. Ich las einen Artikel über Mikroeletronik, | |
im Prinzip eine Beschreibung des iPads im Jahr 1977. Der Autor hatte am | |
Xerox-PARC-Institut gearbeitet, in Palo Alto, also im Silicon Valley, und | |
ich dachte, dass das ein ziemlich cooler Arbeitsplatz sein müsste. Ich | |
wanzte mich da hinein und bekam den Job über ihre Arbeit zu schreiben. Ich | |
fuhr jeden Tag runter nach Palo Alto, um den Rechner dort zu benutzen, den | |
Xerox Alto … | |
… entwickelt 1973, der als erster PC der Geschichte gilt. | |
Ich wollte meine Art zu schreiben, vertiefen, verbessern, erweitern und | |
beschleunigen. Als ich am Xerox-PARC Douglas Engelbart traf, verstand ich | |
dann, dass das nicht nur eine bessere Schreibmaschine war, sondern auch ein | |
Verstärker des Geistes. Es war anders als Psychedelik, aber ebenfalls eine | |
Art, das menschliche Potenzial zu erweitern. | |
Wer war dieser Douglas Engelbart, welche Rolle spielte er? | |
Seine Geschichte geht so: Er war ein junger Ingenieur in den 1950ern, hatte | |
den Zweiten Weltkrieg überlebt und fragte sich: „Was werde ich mit dem Rest | |
meines Lebens anfangen?“ Ein Essay aus dem Atlantic Monthly machte damals | |
die Runde. Es ging darum, dass die Wissenschaft Informationen in einem nie | |
dagewesenen Maß produzierte, unsere Fähigkeiten, dieses Wissen zu | |
verarbeiten aber noch auf dem Stand des 19. Jahrhunderts sei. Der Essay | |
forderte neue Werkzeuge, um Wissen und Informationen zu organisieren. Da | |
Engelbart im Krieg ein Radar bedient hatte, kam ihm in den Sinn, dass ein | |
Computer Lichtpunkte auf einem Bildschirm kontrollieren konnte. | |
Lichtpunkte auf einem Bildschirm … Okay. | |
Ich weiß, das klingt simpel. Aber damals war das radikal. Computer hatten | |
Lochkarten, man bekam Ausdrucke. Man verband kein Bildschirm mit einem | |
Rechner, beides war ja praktisch eben erst erfunden. Das war | |
Science-Fiction, und Engelbart wurde von der Industrie genauso abgelehnt | |
wie von Wissenschaftlern. Aber er hatte genau diese Vision: Computer dafür | |
zu verwenden, um die menschliche Intelligenz zu erweitern. Übrigens war er | |
einer der ersten Menschen, die LSD nahmen. | |
LSD? | |
Psychedelika waren ein wichtiges Bindeglied von Cyberkultur und | |
Gegenkultur. Für mich war es extrem wichtig, plötzlich zu erleben, dass man | |
die Welt nicht nur auf eine einzige Art erfahren kann. Auch Douglas | |
Engelbart hat die Verbindung von menschlichem Potenzial im Sinne der | |
Psychedelik, menschlichem Potenzial mit Blick auf Intellekt und die | |
Verwendung von Computern ausdrücklich betont. Vielleicht hätte es ohne ihn | |
den PC und das Internet nicht gegeben. | |
Industrie und Akademiker lehnten seine Ideen doch ab? | |
Wenn es nach IBM gegangen wäre oder Telefonunternehmen wie TNT und Bell, | |
hätte es den Personal Computer niemals gegeben. Dann kreuzten sich | |
Engelbarts Wege doch noch mit der Arpa … | |
… der Advanced Research Project Agency, einer von der US-Regierung | |
finanzierten Forschungseinrichtung des Verteidigungsministeriums. | |
Ja, das war ein Zusammenfluss von Kräften, den es normalerweise nicht | |
gegeben hätte. 1958 geriet das Verteidigungsministerium in Panik wegen des | |
Sputnik-Satelliten und wollte schnell neue Technologien entwickeln. Teil | |
der Arpa war auch der MIT-Professor J. C. R. Licklider, ein Visionär, er | |
hatte 1960 schon über die Mensch-Computer-Symbiose geschrieben. Er | |
protegierte Engelbart und stellte einen jungen Mann namens Robert Taylor | |
an. Zusammen waren die drei am Aufbau des Arpanet beteiligt, des Vorläufers | |
des Internets, um Forscher an unterschiedlichen Orten vernetzen zu können. | |
Plötzlich begannen aber die Programmierer über diese Rechner zu | |
kommunizieren, und trotz wachsendem politischem Druck sagten Licklider und | |
Engelbart nicht „Zurück an die Arbeit!“, sondern erkannten, dass hier ein | |
neues Kommunikationsmedium entstand. | |
Hatten sie da beim Ministerium etwas übersehen oder war das Intention? | |
Als sie beim Verteidigungsministerium herausbekamen, was da vor sich ging, | |
sagten sie im Prinzip: Aufhören, Waffen entwickeln! Und dann kündigten sie | |
all diese Leute. Xerox gab Robert Taylor einen Job, er sollte alle | |
einstellen, sie wollten das Büro neu erfinden. In der Folge wurde 1970 | |
Xerox-Parc gegründet, wo ich später auch landete. All die Leute waren dort, | |
die vorher die Grundlagen für Computergrafiken gelegt hatten, die Maus, den | |
Vorläufer des Internets und andere elementare Dinge der Computertechnik | |
erfunden hatten. Ich denke, man muss die Rolle von Visionären anerkennen, | |
die die Dinge vorantrieben. | |
In welchem Maß waren diese Visionäre denn Teil der Gegenkultur? | |
Auf eine intellektuelle Weise. Eigentlich waren sie keine Hippies – okay, | |
Engelbart vielleicht ein wenig, das Augmentation Research Center, das er | |
gründete, wurde „Hippie Lab“ genannt, manche Programmierer hatten wohl | |
lange Haare. Aber diese Dinge waren nicht monolithisch. So war es auch, als | |
einige Jahre später plötzlich Geld hereinkam, als das Business begann und | |
Leute wie Steve Jobs auftauchten. Er hatte eine Menge LSD genommen und | |
verstand wie so viele den Whole Earth Catalog als Signal zum Aufbruch. Er | |
verstand, dass die primitiven Rechner von 1984 im Jahr 2000 viel mächtiger | |
seien würden. Ausgehend von Engelbart über die Hippies bis zu Jobs gab es | |
dieses verbindende Element: dass vieles in der Gesellschaft schieflaufe. | |
Also wollten sie eine neue bauen. | |
Die Gegenkultur lehnte sich gegen die Enge der 1950er auf und auch gegen | |
den Staat. Wie entwickelte sich daraus aber das, was die | |
Sozialwissenschaftler Richard Barbrook und Andy Cameron die „Kalifornische | |
Ideologie“ tauften, also die Verbindung zwischen dem „freilaufenden Geist | |
der kulturellen Bohemiens von San Francisco und der unternehmerischen | |
Emsigkeit der Yuppies“? | |
Wenn wir über Gegenkultur sprechen, dann gab es viele Gruppen, mit | |
verschiedenen Ausgangspunkten: die Antikriegsbewegung, die | |
Bürgerrechtsbewegung, die Psychedelics, die Kommunenbewohner. Wir | |
unterschieden uns stark, hatten aber eine Gemeinsamkeit: wir hatten erlebt, | |
dass man nicht General Motors, nicht General Electric sein musste. Man | |
konnte Apple sein, mit nichts in der Hand starten und ziemlich groß werden. | |
Das verstanden alle. | |
Gab es denn den entscheidenden Moment, in dem Sie verstanden, dass sich nun | |
wirtschaftliche Dinge in den Vordergrund drängten? | |
Vor Apple gab es die Videospiel-Industrie, etwa Atari, für die auch Steve | |
Jobs gearbeitet hatte. Plötzlich konnte man Geld mit diesen Spielzeugen | |
machen. Die ersten PCs wurden ein Geschäft. Und dann, 1995, ging Netscape | |
an die Börse und verdiente Geld. Wenn du vorher sagtest, dass du mit dem | |
Internet Geld verdienen wollte, wurdest du ausgelacht. Noch vorher war es | |
verboten. Auf jeden Fall war der Börsengang von Netscape der Beginn dafür, | |
dass Menschen mit Wetten auf Technik Geld verdienten. | |
Was haben Sie zu dieser Zeit des Aufbruchs gemacht? | |
Ich arbeitete damals beim Wired Magazine. Wir bauten unsere Werbebanner | |
selbst. Als wir sie dann an amerikanische Unternehmen verkauften, war das | |
eine große Sache. Irgendwann verschmolzen sich AOL und Time Warner. Das war | |
der Zeitpunkt, als auf einmal riesige Unternehmen den Marktplatz Internet | |
betraten. | |
Was änderte sich dadurch? | |
Die alte Riesen wollten ihre Hegemonie aus dem Rundfunkgewerbe ins Netz | |
übertragen. Aber es gab auch viele neue Unternehmen, Adobe und viele mehr. | |
Es war eine Kollision zwischen Old-fashioned-Kapitalismus und neuen | |
Unternehmern mit neuen Ideen. Dazu kamen das eine Prozent der Reichsten, | |
denen ihre Anlagenberater sagten, ihr müsst mal wirklich riskante | |
Investitionen machen, sonst zahlt ihr Steuern. Ohne die gäbe es kein | |
Risikokapital. | |
Ohne Risikokapital wäre das Start-up-Ökosystem des Silicon Valley kaum | |
denkbar. | |
Ja, aber das Wichtige am Risikokapital ist gar nicht das Geld. Sondern die | |
Attitüde. Es gibt weltweit Versuche, Silicon Valleys zu gründen, aber wenn | |
du mit irgendetwas scheiterst, bekommst du in anderen Ländern oft keine | |
zweite Chance. Das ist schändlich. Wenn du hier scheiterst, geben dir | |
dieselben Leute wieder Geld, damit du es noch einmal versuchst. | |
Der Kommunikationswissenschaftler Fred Turner, mit dem Sie befreundet sind, | |
hat den Zusammenhang zwischen Silicon Valley und Hippies analysiert. Er | |
sagt, dass die Technikbegeisterung mit noblen und vielleicht naiven | |
Vorstellungen begann und dann zu einer Ideologie samt Überwachungsökonomie | |
wuchs. Stimmen Sie ihm zu? | |
Es ist zu generalisierend zu sagen, dass eine Ideologie entstand. | |
Tatsächlich gibt es Leute im Silicon Valley, die eine rechtskonservative | |
oder libertäre Haltung haben. Aber ich würde so nicht einen ganzen | |
Zeitgeist charakterisieren. Die Überwachungsökonomie ist eben Kapitalismus. | |
Nichts, was Marx nicht bereits beschrieben hatte. Eine Maschine wird etwas, | |
das produktiv ist, in Kapital umwandeln. Das Prinzip wurde nicht hier in | |
Kalifornien und nicht in den letzten 50 Jahren erfunden. | |
Warum waren Gegenkultur und Hippie-Bewegung so wenig immun gegen den | |
neoliberalen Kapitalismus? | |
Tja. Warum hat es keine Kultur auf der Welt verstanden, nicht vom | |
Kapitalismus geschluckt zu werden? | |
9 Jun 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.hkw.de/de/programm/projekte/2013/the_whole_earth/start_the_whole… | |
## AUTOREN | |
Lennart Laberenz | |
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