# taz.de -- Jürgen Habermas wird 85: Weltoffen, verständlich, unbestechlich | |
> Habermas war Assistent bei Adorno und Horkheimer. Zum 85. Geburtstag des | |
> Theoretikers des kommunikativen Handelns erscheint eine neue Biographie. | |
Bild: Braucht keinen Blindenhund: Jürgen Habermas. | |
Wer das Glück gehabt hat, im Frankfurt der zweiten Hälfte der sechziger | |
Jahre zu studieren, konnte in einer Woche, manchmal am gleichen Tag, | |
Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas hören. Jürgen Habermas scheute sich | |
1968 auch nicht, auf studentischen Teach-ins aufzutreten, um mit seiner | |
eindringlichen Stimme der antiautoritären Studentenbewegung ins Gewissen zu | |
reden. | |
Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, in Adorno und Habermas zwei | |
Generationen der Kritischen Theorie zu sehen oder zwischen dem | |
wissenschaftlichen und dem politischen Habermas zu unterscheiden. Jürgen | |
Habermas war eine eindrucksvolle intellektuell-politische Autorität, seine | |
Vorlesungen ungeheuer gelehrt und glänzend formuliert, seine öffentlichen | |
Äußerungen wurden in der ganzen Bundesrepublik wahrgenommen. | |
„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ musste man gelesen haben, und „Techn… | |
und Wissenschaft als Ideologie“ wurde als aktuelle Form der | |
Gesellschaftskritik verstanden und heiß diskutiert. 1971 zog er sich aus | |
dem Handgemenge um Adornos Nachfolge zurück, um in seinem Starnberger | |
Forschungsinstitut sein Opus magnum, die „Theorie des Kommunikativen | |
Handelns“, zu erarbeiten, mit dem er in den achtziger Jahren Weltruhm | |
erlangte. | |
Inzwischen war im Gefolge der weltweiten Studentenbewegung der sechziger | |
Jahre auch die Kritische Theorie, wie sie von Horkheimer, Marcuse und | |
Adorno konzipiert worden war, besonders in den beiden Amerikas zu | |
akademischen Ehren gekommen. Als Habermas eine Dekade später aus der | |
Einsamkeit des Forschungsinstituts mit zermürbenden arbeitsrechtlichen | |
Querelen in die akademische Lehre zurückkehren wollte, verweigerte ihm die | |
Münchner Universität eine Honorarprofessur mit Venia Legendi. | |
## Zweite Frankfurter Generation | |
In dieser Zeit der „geistig-moralischen Wende“ (Kohl) verlieh die Stadt | |
Frankfurt ihm den gerade geschaffenen Adorno-Preis und die hessische | |
Regierung ermöglichte ihm eine Rückkehr auf einen Philosophielehrstuhl an | |
der Goethe-Universität. Habermas, der sein Projekt einer | |
Kommunikationstheorie ein Jahrzehnt lang von der Kritischen Theorie | |
abgegrenzt hatte, begann jetzt mit seiner wirkungsvollen „invention of | |
tradition“, in der er sich selbst als Vertreter einer „zweiten Generation“ | |
der Frankfurter Schule darstellte und gern auch darstellen ließ. Die | |
Identität des Ortes Frankfurt erleichterte diese Mythenbildung. | |
Der inzwischen nach Berlin umgezogene Suhrkamp Verlag, in dem das Werk | |
Adornos ebenso wie das von Habermas veröffentlicht wird, hat pünktlich zum | |
85. Geburtstag eine umfangreiche Biografie des Jubilars vom emeritierten | |
Oldenburger Soziologieprofessor Stefan Müller-Doohm herausgebracht. | |
Müller-Doohm, der sich in seiner 2003 erschienenen Adorno-Biografie noch | |
als Schüler Adornos ausgab, verweist mit großem Stolz auf sein hauseigenes | |
Habermas-Archiv und DFG-geförderte Biografieforschungsprojekte. Vor den | |
Fallstricken des von Leo Löwenthal schon vor fünfzig Jahren kritisierten | |
Biografismus bewahrt ihn das allerdings nicht. | |
In seiner monumentalen Adorno-Biografie hatte Müller-Doohm nicht der | |
Versuchung widerstanden, ein fremdes Leben nachzuerzählen – eine ins | |
Fiktionale zwingende Technik, die den Biografen in die Nähe des Romanciers | |
rückt, wie er auch zu Beginn seiner neuen Biografie affirmativ feststellt. | |
Das Pech liegt im Gegenstand; schon Adorno empfand sein eigenes Leben als | |
unspektakulär, Habermas nennt das seine unheroisch. Der Biograf verlagert | |
seine Nacherzählung vom Leben auf das Werk. Es würde eine Biografie | |
vollkommen unleserlich machen, versuchte man, das gewaltige Oeuvre von | |
Jürgen Habermas noch einmal vorzustellen. Als Mittel der Verdichtung bleibt | |
nur noch die Paraphrasierung theoretischer Gedanken, die notwendigerweise | |
hinter dem Original zurückbleibt. | |
## Biograf als Blindenhund | |
Der unproblematische Gebrauch dieses stilistischen Mittels verbindet diese | |
Biografie mit dem von Habermas selbst als „Monstrum“ bezeichneten | |
Hauptwerk. Die „Theorie des Kommunikativen Handelns“ bietet die | |
Habermas’schen Lesarten der vergangenen großen Gesellschaftstheorien an, | |
aus deren angeblichen Defiziten die Habermas’sche Theorie erwachsen soll. | |
Notwendigerweise führt diese Darstellungsweise zur Relativierung und | |
Abwertung der älteren Theorien, die einem unterstellten Fortschritt | |
wissenschaftlicher Erkenntnis geopfert werden. Habermas, der sein | |
akademisches Projekt mit Weitblick anzulegen weiß, braucht keinen | |
Blindenhund, der ihn durch die „neue Unübersichtlichkeit“ der Gegenwart | |
führt. Der Biograf Müller-Doohm folgt daher den Selbstdarstellungen seines | |
Objekts wie ein treuer Anhänger. | |
Die Biografie beginnt mit einer Verzerrung, mit einer Karikatur, die der | |
Wiesbadener Jazzgitarrist und Frankfurter Student Volker Kriegel 1969 | |
gezeichnet hat – ein übergroßer Max Horkheimer breitet seine Arme über die | |
kleinen, gleich großen Brüder Marcuse, Adorno und Habermas aus. So wurde am | |
Ende der 60er Jahre die Frankfurter Schule in der westdeutschen | |
Öffentlichkeit wahrgenommen. | |
Müller-Doohm möchte diese Vorstellung gleich zu Beginn seiner Biografie | |
korrigieren; aber es gelingt ihm nicht. Habermas hat in der Zeit, als er | |
sich vom Frankfurter Mythos verabschieden wollte, sich eindeutig zu seinen | |
ersten beiden Frankfurter Aufenthalten, in den fünfziger Jahren als | |
Assistent am Institut für Sozialforschung, in den Sechzigern auf dem | |
Lehrstuhl von Horkheimer, geäußert: „Eine Kritische Theorie gab es für mich | |
nicht.“ | |
Die Schriften aus der Zeit vor 1949 lagen im Keller. Seine akademische | |
Ausbildung erhielt Habermas nicht bei den Remigranten Horkheimer und | |
Adorno, sondern in Göttingen, Zürich und Bonn – vor allem bei altdeutschen | |
akademischen Mandarinen, die noch braunen Dreck an ihren Stiefeln hatten. | |
Man muss es als ein historisches Verdienst von Habermas ansehen, sich von | |
diesen Lehrern emanzipiert und das Bild des deutschen Professors nachhaltig | |
verändert zu haben – vom akademischen Provinzlertum befreit, weltoffen, | |
verständlich für ein nichtakademisches Publikum reden und schreiben zu | |
können. | |
## Doppelte Existenz | |
Das Beste an Müller-Doohms Schrift scheint mir die Erinnerung daran, dass | |
es Habermas nicht immer leicht gehabt hat. Ein Schlüssel für seine | |
Fähigkeit, die Öffentlichkeit zu suchen und zu erreichen, liegt in den | |
frühen fünfziger Jahren, als ihm eine akademische Karriere verwehrt schien | |
und er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie mit freiem Schreiben | |
verdienen musste. | |
Diese doppelte Existenz als freier Autor und akademischer Wissenschaftler | |
hat Habermas zu seiner Lebensform gemacht. Sie ermöglichte es ihm, zum Max | |
Weber der Bundesrepublik zu werden – unbestechlich in seinem politischen | |
Urteil, den Widerspruch herausfordernd, akademisch, aber strategisch | |
denkend und planend, um seinen Typ von Wissenschaft zum führenden zu | |
machen. Habermas ist es gelungen, Formulierungen für seine Theorie zu | |
finden – „herrschaftsfreie Kommunikation“ oder „den zwanglosen Zwang des | |
besseren Arguments“ –, die sich nicht mehr vergessen lassen. | |
Aber er hat auch den Preis gezahlt, den Max Weber gefordert hat – die | |
Trennung von Wissenschaft und Politik. Müller-Doohm unterscheidet mit | |
Habermas das Werk zwischen akademischer Theorie und Zeitdiagnostik. In | |
schlechtester biografistischer Manier plaudert Müller-Doohm aus, dass die | |
„Mehrzahl der später in den Kleinen Politischen Schriften versammelten | |
Texte“ nicht ohne das „Plazet“ von Ehefrau Ute das Haus verlassen hätten. | |
Ob mit oder ohne Erlaubnis – Habermas größte politische Tat bleibt seine | |
Intervention im Historikerstreit, als er dem selbstgewissen Teutonismus am | |
Ende der alten Bundesrepublik die Leviten las. | |
Der Autor studierte 1966–1971 Philosophie, Soziologie, Literatur, Politik | |
in Frankfurt und ist Professor an der Uni Hannover. | |
15 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
## TAGS | |
Jürgen Habermas | |
Frankfurter Schule | |
Soziologie | |
BRD | |
Marketing | |
Jürgen Habermas | |
Schwerpunkt 1968 | |
Soziologie | |
Jacques Derrida | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Geschichte der BRD: Ein intellektuelles Panorama | |
Axel Schildt rekonstruiert die Geburt der bundesrepublikanischen | |
Medienintellektuellen aus den Trümmern des „Dritten Reiches“. | |
Debatte Manipulation durch Werbung: Die Kraft der Argumente | |
Bei einem Workshop über Heimtierzubehör kann man leicht zur Erkenntnis | |
kommen: Marketing macht Meinung zur Lüge. | |
Oskar Negt wird 80: Vom Bohren harter Bretter | |
Oskar Negt war früher Mentor der Studentenbewegung. Heute bildet er ein | |
Missing Link zwischen traditioneller und Neuer Linker. | |
Historiker über Linksalternative: „Zwang, sich selbst zu verwirklichen“ | |
Sven Reichardt hat über die Erfolge, aber auch die Desillusionierung der | |
linksalternativen Bewegung geforscht. Sie sei Teil eines Wandels gewesen, | |
sagt er. | |
Buch „Entfremdung und Beschleunigung“: Rasen im Stillstand | |
Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa fragt in seinem Essay, weshalb es trotz | |
Liberalisierung nicht gelingt, ein gutes und erfahrungssattes Leben zu | |
führen. | |
Zum Geburtstag von Jacques Derrida: „Ich habe Adorno nie intensiv gelesen“ | |
In Frankreich rezipierte man andere deutsche Philosophen als hier. Warum | |
das so war, erklärt Jacques Derrida in einem bisher unveröffentlichten | |
Interview. |