# taz.de -- Buch „Entfremdung und Beschleunigung“: Rasen im Stillstand | |
> Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa fragt in seinem Essay, weshalb es trotz | |
> Liberalisierung nicht gelingt, ein gutes und erfahrungssattes Leben zu | |
> führen. | |
Bild: Durch's Leben flitzen, ohne es zu genießen. | |
Hartmut Rosa fordert sich mehrfach heraus. Er will die von ihm beklagten | |
Routinen der Soziologie verlassen, denn nur dann könne die Wissenschaft | |
Widerhall in der Öffentlichkeit finden. Er rückt die (Allerwelts-)Frage | |
„nach dem guten Leben“ in den Mittelpunkt, sei sie den Menschen doch | |
wichtig und mit ihrem Alltag verknüpft. Und er will mit seinem Essay | |
beginnen, eine „Kritische Theorie der sozialen Beschleunigung“ zu | |
formulieren. | |
Diese Theorie will er mit den Gesellschaftskritiken der Philosophen Jürgen | |
Habermas und Axel Honneth verknüpfen, denn er ist sich sicher, dass sie | |
wechselseitig voneinander profitierten. | |
Rosa kritisiert zu Recht, die Analyse der Zeitverhältnisse und der Prozesse | |
der Beschleunigung würden bisher sträflich unterbewertet. Denn in ihnen | |
sieht er die „treibende Kraft der Moderne“. „Merkmale einer totalitären | |
Herrschaft“ wiesen diese Phänomene auf, durchdrängen sie doch alle | |
Lebensbereiche, übten sie – mit unterschiedlicher Intensität – Druck auf | |
Tun und Willen aller Subjekte aus. | |
Und sie unterschieden sich doch, so sein zentrales Argument, grundlegend | |
von politischen, religiösen oder kulturellen Normen und Vorgaben: Diese | |
seien erkennbar sozial konstruiert und damit anfechtbar. | |
Die To-do-Listen, Deadlines und Projekt-Zeitpläne kämen dagegen im Alltag | |
der Menschen an, als seien sie Folge eines Naturgesetzes. Es sei kaum | |
möglich, sie zu kritisieren, weshalb sich die Menschen diesem Netz aus | |
zeitlich-sozialen Normen unterwürfen, ohne dies letztlich zu wollen. Vor | |
dem Hintergrund einer anhaltenden Burn-out-Debatte sollte der Autor | |
allerdings überprüfen, wie weit diese Nichtkritisierbarkeit reicht. | |
## Die Anpassungsfähigkeit der jungen Generationen | |
Rosa belegt, wie hilfreich sein Ansatz sein kann, gesellschaftliche | |
Entwicklungen zu analysieren und zu gewichten. So führt Beschleunigung in | |
der Arbeitswelt vermutlich vermehrt zu Burn-out und Depressionen, | |
zeitgleich passen sich jüngere Generationen an, auch indem sie | |
Multitasking-Fähigkeiten erproben. | |
Einer enormen Beschleunigung des digitalen Börsenhandels stehen nur geringe | |
oder gar keine Beschleunigungen in den Sektoren der produzierenden | |
Industrie und der Dienstleistungswirtschaft entgegen. Der rasende Wandel | |
von Technik und Wirtschaft lässt die Sphären der Kultur und des Politischen | |
stillstehen. Deshalb werde die Politik nicht mehr „als Schrittmacher | |
sozialen Wandels“ wahrgenommen. | |
So konstatiert Rosa sehr differenziert auf der Ebene der Gesellschaft | |
auseinanderfallende Entwicklungen, die wiederum zu Spannungen und | |
Verwerfungen führen. Mit Rosas Besteckkasten kann geschürft und an vielen | |
Stellen ein anderer Blick auf prägende gesellschaftliche Tendenzen geworfen | |
werden. | |
Intensiv widmet er sich der Frage, wie vor allem die soziale Beschleunigung | |
zu Entfremdung führt; ein Begriff, dem er neue Bedeutung verleihen will. | |
Der ständige Austausch von Produkten, der faktische Wegfall der Reparatur | |
führe zu einer Entfremdung von den Dingen, ebenso wie der kaum noch | |
verkraftbare Überfluss an erfahrungsarmen Erlebnissen, oberflächlichen | |
sozialen Kontakten und Informationen Menschen dazu verführe, etwas zu tun, | |
was sie nicht „wirklich wollten“. Diesen Kapiteln fehlt merklich die | |
Schärfe und Präzision, welche die anderen prägen. | |
Hartmut Rosa hat ein sehr anregendes Buch vorgelegt, das gerade für den | |
interessierten Laien ein guter Einstieg ist, um die Arbeit des angesehenen | |
Jenaer Soziologen kennenzulernen. Der Essay ist ungeachtet seiner | |
gedanklichen Dichte sehr verständlich und anschaulich geschrieben. Wer | |
allerdings die früheren Werke von Rosa zu diesem Thema kennt, der wird kaum | |
Neues finden. | |
7 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Storz | |
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