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# taz.de -- Montesquieus Deutschlandreise: Unterwegs zu den Wilden und Groben
> Die Notizen über Charles-Louis de Montesquieus Deutschlandreise sind
> voller Witz und Ironie. Nun ist das Buch auch auf Deutsch erschienen.
Bild: Im Jahr 1728 machte sich Montesquieu mit einer Kutsche auf die Reise durc…
Es gibt Philosophen, die ihr gesamtes Leben an einem krähwinkligen Ort
absitzen, und denen bei einem solchen Pflanzendasein nichts fehlt, da für
sie ohnehin nur das Universelle, das überall das Gleiche ist, in Betracht
kommt. So Immanuel Kant.
Es gibt aber auch Philosophen, die Tiefsinn nicht von Neugier trennen
wollen. Charles-Louis de Montesquieu zählt zu dieser Art von Denkern. Er
könne sich nicht vorstellen, schrieb der französische Aufklärer
gelegentlich, dass jemand „ein Ding anzusehen lieben kann, ohne nicht
gleich das Bedürfnis zu haben, auch ein anderes Ding anzusehen“.
Der Baron hatte einen ausgeprägten Sinn für Mannigfaltigkeit, und so
wundert es nicht, dass das Reisen in seinem Leben und Schreiben eine
wichtige Rolle spielte. In den berühmten „Persischen Briefen“ – einem Bu…
das zum Kanon der französischen Schullektüre gehört – versetzte er sich in
einen fiktiven persischen Touristen und konnte so die eigenen französischen
Institutionen und Sitten aus der Ausländerperspektive heraus ins Groteske
verfremden.
Und sein philosophisches Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze“ ist in gewisser
Hinsicht fast so etwas wie eine Politiktheorie aus dem Geiste des Reisens:
Die klimatischen, geografischen und kulturellen Gegebenheiten der Länder,
so analysiert der liberale Verfassungstheoretiker, seien Auslöser
spezifischer Dynamiken, die die jeweiligen Gesellschaften zur Republik, zur
Monarchie oder zur Tyrannei disponieren.
## Das „Modell Deutschland“
Diese Eigenschaft, Andersheit anregend zu finden, veranlasste Montesquieu
im Jahre 1728, als immerhin fast Vierzigjähriger sein komfortables
französisches Edelmannleben in eine Postkutsche zu verfrachten und zu einer
„Grand Tour“ in das europäische Ausland aufzubrechen. Auch die Länder des
„Heiligen Deutschen Reiches“ hat er dabei ausführlich durchreist.
Das bei dieser Gelegenheit verfasste Tagebuch – ergänzt durch etliche
Briefe – liegt nun in einer angenehm lesbaren Ausgabe erstmals auf Deutsch
vor. Der Herausgeber und Vorwortverfasser Jürgen Overhoff interpretiert
diese Deutschlandreise als Bildungserlebnis, das ausgerechnet einen
Franzosen so etwas wie ein „Modell Deutschland“ hat entdecken lassen.
In der Tat wird der längst wieder zu seinem Gutshof in der Nähe von
Bordeaux zurückgekehrte Montesquieu in einer einflussreichen Textstelle in
„Vom Geist der Gesetze“ den Flickenteppich fast souveräner Einzelstaaten,
aus denen das deutsche Reich sich damals zusammensetzte, zu einer
„République fédérative“ aufwerten.
Das deutsche Reich erschien ihm als eine „Gesellschaft von Gesellschaften“,
die durch ihre intermediären Gewalten eine analoge „Begrenzung der Macht
durch die Macht“ erreicht wie jene liberalen Verfassungen, die die von
Montesquieu in den politischen Diskurs eingeführte Trennung von
Legislative, Exekutive und Jurisdiktion festschreiben.
## Die dummen Deutschen
Bei der Lektüre von Montesquieus Reiseeindrücken fallen allerdings nicht in
erster Linie verfassungspolitische Überlegungen auf. Das Thema
Gewaltenteilung interessieren ihn eigentlich nur, wenn er in den deutschen
Reichsstädten beobachten kann, wie Protestanten und Katholiken – oft mit
schildbürgerhafter Umständlichkeit – sich das Stadtregiment teilen. Bei
seinen Begegnungen mit den deutschen Städtern neigt er schnell dazu, ins
völkerpsychologische Stereotypisieren zu verfallen.
Unverkennbar schlägt der Edelmann, den er auch als Reisender nicht ablegt,
durch, wenn er konstatiert, dass die Deutschen eigentlich auch zum
Domestikenberuf zu dumm sind: „Wenn Sie ihnen einen Befehl geben, werden
Sie sehen, dass sie lange vor sich hin träumen, um ihn so sich in den Kopf
zu setzen, als ob Sie ihnen eine Rechenaufgabe gestellt hätten.“
Sein Hauptinteresse gilt den Höfen der deutschen Fürsten, die oft eher
schlecht wegkommen. Der preußische Soldatenkönig ist ihm als unerträglicher
Tyrann zuwider. Neben Einblicken in allerlei Menschliches und
Unmenschliches im Treiben der damaligen Eliten findet man auch die im
Wissenssystem eines Reisenden des 18. Jahrhunderts überraschenderweise als
notierenswert eingestufte Information, dass der „Baron von Arzt,
Vizegroßfalkner des pfälzischen Kurfürsten, die Prinzessin von Sulzbach
fickt“.
Solche Textstellen zeigen, dass Montesquieus Reisenotizen den Reiz des
Authentischen haben, aber von ihm selbst sicherlich nicht in dieser Form
publiziert worden wären.
3 Jan 2015
## AUTOREN
Christof Forderer
## TAGS
Deutschland
Reisen
Politisches Buch
Tagebuch
Liberalismus
Schwerpunkt Klimawandel
USA
Soziologie
Schwerpunkt Finanzkrise
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