# taz.de -- Politische Theorie in den USA: Lasst es uns mit Marx versuchen | |
> In den USA wird das Comeback von Marx ausgerufen. Der Starliterat | |
> Benjamin Kunkel erhellt die blinden Flecken des Neokeynesianismus. | |
Bild: Marx ist wieder in den USA angekommen. Ob er sich dort auch halten kann? | |
Begriffe sind nicht fix, sondern sie leben in Raum und Zeit. Marxist zu | |
sein, bedeutet in jeder Generation und in jedem Jahrzehnt etwas anderes. | |
Wenn jemand das Label, „Marxist“ zu sein, in den vergangenen Jahren als | |
Selbstbezeichnung vor sich hertrug, dann bedeutete das oft: Meine | |
Radikalität ist vor allem eine Markierung der Differenz, ich bin anders, | |
nicht Mainstream. | |
Was kümmern mich die reale Welt und die normalen Menschen. Immerhin habe | |
ich den Zuspruch derer, die mein Denken teilen, also meiner drei besten | |
Freunde und des Vernissagenpublikums. Die Selbstcharakterisierung als | |
Marxist war von akademischen Elitengehabe oft verdammt schwer zu | |
unterscheiden. | |
In den USA wird in diesem Frühsommer [1][das „Comeback von Marx“ | |
ausgerufen], weil eine junge Generation Intellektueller die radikale Kritik | |
entdeckt. Hauptgründe sind: Die Gründung des linken Magazins Jacobin, die | |
Wendung der Gruppe kritischer Intellektueller um die Zeitschrift n+1 in | |
Richtung Marxismus und vor allem das neue Buch des Starliteraten Benjamin | |
Kunkel, „Utopia or Bust“. | |
Nun ist die Proklamation einer solchen Renaissance noch nicht unbedingt der | |
Rede wert, wird sie doch alle paar Jahre ausgerufen. Allein in den | |
vergangen zwanzig Jahren wurde Marx’ Rückkehr, wenn ich recht zähle, | |
zweimal annonciert: 1997 erklärte der New Yorker Marx zum „nächsten großen | |
Denker“, und andere Magazine zogen nach. Weil der Kapitalismus so brummte, | |
sei jetzt wieder die Stunde einer Systemkritik gekommen, die diesen | |
Kapitalismus zu verstehen helfe, hieß es damals. | |
## Die „öffentlichen Intellektuellen“ | |
Zehn Jahre später, als das Kartenhaus des globalen Finanzkapitalismus | |
zusammengebrochen war, wurde wieder Marx’ Rückkehr prophezeit – diesmal, | |
weil man ja verstehen musste, warum der Kapitalismus, der gerade noch so | |
lebendig schien, zum „Kaputtalismus“ werden konnte. Viel gefolgt ist aus | |
all dem nichts. Es war nie viel mehr als ein feuilletonistisches | |
Zeitgeistblätterrauschen. Aber, wer weiß, vielleicht ist diesmal alles | |
anders? | |
Die Gewährsleute der heutigen US-amerikanischen Marx-Renaissance sind | |
eigentümlich ernsthafte Leute wie der erwähnte Benjamin Kunkel. Kunkel, 41, | |
ist seit zehn Jahren so etwas wie die Stimme einer Generation: derjenigen, | |
die als leicht orientierungslose Twenty- und Thirtysomethings durch die | |
nuller Jahre gingen, sich aber um Relevanz bemühten. | |
Vor knapp zehn Jahren sorgte er mit seinem Roman „Unentschlossen“ für eine | |
der großen literarischen Sensationen. Seine Hauptfigur, Dwight Wilmerding, | |
der ziellos durchs Leben driftet, ist eine komische Holden-Caulfield-Type | |
der Jahrtausendwende. | |
Kunkel selbst, der diese amüsante Charakterisierung einer ganzen Generation | |
zwischen „irgendwie dagegen sein“, Konsumkapitalismus und Ecstasy-Rausch | |
schrieb, vertiefte sich danach in philosophische Lektüre und erstaunlich | |
fundierte Studien der politischen Ökonomie. Er begründete mit anderen die | |
linke Kulturzeitschrift n+1, schreibt am neuen linken Politjournal Jacobin | |
mit und entwickelte sich zum „öffentlichen Intellektuellen“. | |
## Die Ökonomie zähmen | |
Vor ein paar Wochen ist nun bei Verso sein neues Buch „Utopia or Bust“ | |
erschienen – eigentlich nur eine Sammlung verstreuter Essays und | |
Großrezensionen, die sich primär an anderen Autoren entlangarbeiten: An der | |
Krisentheorie David Harveys, der Kapitalismusanalyse Robert Brenners, dem | |
Kulturmarxismus Fredric Jamesons. Vor ein paar Wochen publizierte Kunkel | |
zudem eine große, beeindruckende Kritik an Thomas Pikettys „Capital in the | |
21st Century“. | |
Kunkel interveniert also auf dem zentralen Feld der gegenwärtigen | |
Auseinandersetzung (auf einem Feld, das der zeitgenössische Marxismus lange | |
vernachlässigt oder nur eher phrasenhaft beackert hat), der Ökonomie und | |
Wirtschaftstheorie. Kunkel kennt die Modelle der rivalisierenden Schulen, | |
er nimmt sie ernst, ist daher auch in der Lage, seine Kritik an ihnen | |
präzise anzubringen. | |
Will man die Debattenlage, auf die Kunkel kritisch – oder anders gesagt: | |
radikalisierend – abzielt, grob (der Kürze wegen: zu grob) zusammenfassen, | |
könnte man so formulieren: Der Finanzcrash hat die intellektuelle Hegemonie | |
des Neoliberalismus zusammenbrechen lassen. Es entsteht ein neuer | |
postkeynesianischer Mainstream, der zwar nicht hegemonial ist, aber doch | |
Terrain erobert. | |
Einflussreiche Ökonomen, von Joseph Stiglitz bis Paul Krugman und Thomas | |
Piketty, prägen heute die Diskurse, die die Abkehr vom keynesianischen | |
Arrangement als wesentliche Krisenursache ansehen und damit – implizit und | |
oft auch explizit – die Deutung nahelegen, man müsse nur zum | |
keynesianischen Projekt zurückkehren, schon könne man die globale Ökonomie | |
wieder auf Prosperitätskurs bringen und zugleich gerechter machen. | |
## Von Marx inspiriert | |
Kunkel weist eine solche Deutung nicht rundum von sich. Der „Marxismus“ | |
seiner Bande ist weit davon entfernt, doktrinär zu behaupten, dass eine | |
sozialreformerische Zähmung (und damit auch Rettung) der kapitalistischen | |
Marktwirtschaft ausgeschlossen ist. Die neuen Radikalen nennen sich selbst | |
auch nicht „marxistisch“, sondern „marxish“ („marxisch“), was eine … | |
Verortung im Sinne von „von Marx inspiriert“ oder „in Tradition des | |
Marx’schen Denkens“ meint und sich von orthodoxer Buchstabengläubigkeit | |
absetzt. „Vermarxt“, gewissermaßen. | |
Aber gerade das erlaubt es Kunkel, auf die Fragwürdigkeiten der post- oder | |
neokeynesianischen Vorschläge hinzuweisen, und die fundierte ökonomische | |
Bildung, die er sich in einem Jahrzehnt angelesen hat, verleiht diesen | |
Hinweisen Hand und Fuß. Was also sind die berechtigten Einreden gegen das | |
neokeynesianische Denken? | |
Zunächst: Der Neoliberalismus verdankte seinen Triumph in den siebziger | |
Jahren ökonomischen Veränderungen des Nachkriegskapitalismus, namentlich | |
„Überakkumulation“ und „Unterkonsumtion“. Profitraten in der Realwirts… | |
gingen zurück. Das befeuerte das spekulative Fieber der Finanzwirtschaft, | |
weil Kapitalbesitzer auf diese Weise höhere Renditen erhofften. | |
Die zweite Antwort auf die angespannteren Renditeaussichten war das Drücken | |
der Reallöhne, was aber keine befriedigende Lösung bringen konnte, da es | |
die Überakkumulationskrise und Unterkonsumtionskrise nur verschärfte: | |
Arbeitnehmer, die noch weniger verdienten, konnten noch weniger | |
konsumieren. Was die Renditen in der Produktion heben sollte, hat sie also | |
gleichzeitig wieder reduziert. | |
## Der Kollaps der Rendite | |
Wachsende Verschuldung privater Haushalte hat diesen Prozess zwar gebremst, | |
aber eben mit dem fatalen Ende, das wir alle kennen, nämlich Aufblähung des | |
Finanzsektors und verallgemeinerte Überschuldung. Dem Exzess an Schulden | |
steht der Exzess an Ersparnissen (der Reichen und Superreichen) gegenüber, | |
und beide haben eine gemeinsame Ursache: unterbezahlte Arbeit. | |
Diese Phase ist durch niedriges Wachstum und zunehmend ungleiche Verteilung | |
gekennzeichnet, und das ist keine rein zufällige Korrelation. Es gibt gute | |
Gründe anzunehmen, dass die ungleiche Verteilung eine wesentliche Ursache | |
für das niedrigere Wachstum ist. | |
So sehr Kunkel Thomas Pikettys empirische Studie über die wachsende | |
Ungleichheit schätzt, so sehr kritisiert er das Fehlen jedes theoretischen | |
Rahmens. Wenn die Kapitalrendite stetig über der Wachstumsrate liegt (das | |
ist der Kern des von Piketty dargelegten „Gesetzes“), so folge daraus | |
zwangsläufig, dass immer mehr renditesuchendes Kapital in den Händen von | |
Privaten immer weniger konsumierbarem Einkommen von normalen Bürgerinnen | |
und Bürgern gegenübersteht. | |
Es muss daher logischerweise den Punkt geben, an dem das Renditewachstum | |
kollabiert, also Renditesteigerung in Renditeschrumpfung umschlägt. Man | |
ist, um all das zu verstehen, mit Marx’ Überlegungen zum tendenziellen Fall | |
der Profitrate womöglich doch auf der sichereren Seite als mit Pikettys | |
Empirismus, so darf man Kunkel interpretieren. Man könnte auch so sagen: Wo | |
Piketty Pathologien unseres Wirtschaftssystems nachspürt, sucht Kunkel in | |
alter Marx’scher Manier nach dessen „Widersprüchen“, nach den Kurzschlü… | |
und Krisenspiralen, aus denen es keinen Ausweg gibt. | |
## Revolution ist realistischer | |
Womöglich gibt es in einer zunehmend statischen Welt ohne große | |
Wachstumsraten bei gleichzeitiger Überschuldung aller Wirtschaftssubjekte – | |
Staaten, privater Haushalte, Banken – die keynesische Alternative gar nicht | |
mehr. Also: Was, wenn Keynes nicht mehr funktioniert? Na, dann lasst es uns | |
mit Marx versuchen! | |
Bei aller Kritik am neuen neokeynesianischen Mainstream, und Kunkel legt | |
punktgenau den Finger auf die blinden Flecken dieser politökonomischen | |
Schule, so ist er natürlich selbst ein halber Keynesianer. Einer, der die | |
richtigen Fragen stellt, dann aber doch selbst formuliert, „globale | |
Prosperität wird erst wieder zurückkehren mit der Entwicklung von | |
Gesellschaften, in denen die Menschen in der Lage sind, zu konsumieren, was | |
sie produzieren, und in der sie mit ihrer Arbeitskraft mehr produzieren“ – | |
oder anders gesagt, wo ein Zustand der „Vollbeschäftigung“ herrscht. Das | |
ist freilich, mit Verlaub, Keynesianismus pur. | |
Die berechtigten Fragen, die Kunkel aufwirft, sind durchaus ins | |
keynesianische Modell integrierbar. Eine Mischung aus globalen | |
Schuldenschnitten, massiver Umverteilung, signifikantem Lohnwachstum und | |
öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Vollbeschäftigung | |
herstellen, könnte den Wirtschaftsmotor, kurz vor dem Kolbenreiber, | |
vielleicht doch wieder anwerfen, wer weiß? | |
Doch die zweite Frage – neben der ersten, ob das überhaupt noch ökonomisch | |
möglich ist –, ist die Frage danach, ob das politisch realisierbar ist. | |
Über Pikettys Vorschlag einer globalen Vermögensbesteuerung schreibt Kunkel | |
nicht zu Unrecht: „Wie soll es möglich sein, dass die geschäftsführenden | |
Organe der herrschenden Klasse in allen Ländern quer über dem Globus | |
gemeinsam beschließen, Pikettys massive Besteuerung genau dieser Klasse | |
einzuführen?“ Sarkastisch fügt er hinzu: „Ehrlich, da ist ja noch die | |
sozialistische Revolution realistischer.“ | |
## Ironie und Sachkunde | |
In gewisser Weise ist auch Kunkels Marxismus eine Spielart des | |
„Katastrophen-Marxismus“, also der Überzeugung, dass „normale“ Auswege… | |
Rahmen des Systems wirtschaftlich möglicherweise nicht offenstehen, und | |
wenn doch, es eine politisch vollkommen fantastische Vorstellung sei, dass | |
sie auch gewählt werden könnten. „Kapitalismus ist Selbstmord“, sagte er | |
einmal bei einem Vortrag. Das klingt zwar etwas nach apokalyptischer | |
Schwarzmalerei, das Problem ist freilich: Das Argument ist nicht leicht von | |
der Hand zu weisen. | |
Vielleicht ist das eigentlich Erstaunliche der marxistelnden Schule um | |
Kunkel und Freunde: Dass sie, anders als wir das in den vergangenen | |
Jahrzehnten von Denkern des Radikalen gewohnt waren, verdammt realistisch | |
und vernünftig sind. Dem antipolitischen Affekt von Occupy kann er genauso | |
wenig abgewinnen wie der direkter Aktion durch führungslose, | |
antihierarchische Bewegungen, wie sie etwa vom Wortführer David Graeber | |
regelmäßig vorgeschlagen wird. | |
Dies ist schließlich einer der Hauptgründe dafür, dass Occupy wirkungslos | |
blieb. Moderate Reform und radikale Transformation sind für Kunkel keine | |
Widersprüche: „Die Hochzeiten des Wohlfahrtsstaates waren, letztendlich, | |
von mehr Radikalisierung von Arbeitern und Studenten begleitet als die | |
darauf folgende Ära des Neoliberalismus, die die Radikalen und die | |
Reformisten gleichermaßen demoralisierte.“ | |
Der Duktus, aber auch die gelassene Ironie und die Sachkunde lassen dieses | |
neue radikale Denken Analysen produzieren, denen man letztendlich auch als, | |
sagen wir: reformistischer Sozialist zustimmen muss oder denen man | |
wenigstens eine grundlegende Überzeugungskraft kaum absprechen kann. Sie | |
sind vom Zweifel getragen, dass sich die Maschinerie einfach so reparieren | |
lassen wird. Politische Strategie im engeren Sinne haben Kunkel & Co. | |
keine. | |
Ausgeschlossen ist dennoch nicht, dass dieses Denken an Einfluss gewinnt. | |
Die Nachkrisenjahre führten dazu, dass die Ego-Ökonomie des Neoliberalismus | |
an diskursiver Macht verlor, ein gemeinwohlorientierter Neokeynesianismus | |
an Einfluss gewann. Die neuen Radikalen setzen dort an, wo dieser zu kurz | |
greift. Ihre Stärke ist: Sie werfen die Fragen auf, die sich aufdrängen. | |
Und sie werden in einer relevanten Öffentlichkeit wahrgenommen. | |
8 Aug 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.salon.com/2014/06/22/believe_it_or_not_karl_marx_is_making_a_com… | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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