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# taz.de -- Zum Tod des Politologen Iring Fetscher: Marx, Brandt und die Wichte…
> Er holte Karl Marx aus den ideologischen Schützengräben, beriet die SPD
> und interessierte sich früh für Ökologie. Nun ist Iring Fetscher
> gestorben.
Bild: Rettete das Emanzipatorische der Marx’schen Theorie: Iring Fetscher in …
Vor einigen Jahren sagte der damals 90-jährige Politikwissenschaftler
[1][Iring Fetscher] am Rande der Beerdigung eines 81-jährigen Kollegen:
„Die jungen Leute sterben uns weg.“ Das war ein typischer Satz für
Fetschers Humor und seinen Optimismus: Mit 81 ist man jung und mit 90 nicht
alt – auf jeden Fall nicht so alt, dass man nicht mehr selber Auto fahren
könnte. Fetscher verabschiedete sich, stieg ein und fuhr weg.
Iring Fetscher wurde am 4. März 1922 in Marbach am Neckar geboren und wuchs
seit seinem zweiten Lebensjahr in Dresden auf, wo sein Vater bis zu seiner
Entlassung durch die Nazis am Hygienischen Institut arbeitete. In seiner
Autobiografie von 1995 („Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu
verstehen“) beschrieb er sich in seinen Kinderjahren als „ängstlicher
Außenseiter“ und schlechter Schüler. Als Heranwachsender begeisterte er
sich zeitgemäß für Schopenhauer, Nietzsche und Oswald Spengler.
Als 18-Jähriger meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht mit dem festen
Wunsch, Offizier zu werden. Rund zwei Fünftel seines autobiografischen
„Versuchs, sich selbst zu verstehen“ sind der militärischen Ausbildung und
dem Krieg gewidmet, in dem er es bis zum Oberleutnant der Artillerie
brachte. Er erlebte den Krieg im Osten, im Westen und im Norden und geriet
bei Kriegsende für kurze Zeit in britische Gefangenschaft.
Im Herbst 1945 kam Fetscher nach Dresden zurück, wo er erfuhr, dass sein
Vater „am letzten Kriegstag, als die ’bedingungslose Kapitulation‘ bereits
vereinbart war, von einer in den Trümmern Dresdens herumirrenden SS-Streife
erschossen worden war“. Der Schock verstärkte Fetschers „schon während der
letzten Kriegsjahre erwachte Religiosität“. Die Sinnsuche und Sinnkrise
endete mit der Konversion zum Katholizismus.
Trotzdem studierte er beim aufgeklärten Kulturprotestanten Eduard Spranger
in Tübingen. Entscheidend für sein Dissertationsthema („Hegels Lehre vom
Menschen“, 1950) wurde seine Begegnung mit dem legendären Hegel-Interpreten
Alexandre Kojève während eines Auslandssemesters 1948 in Paris. Nach der
Promotion arbeitete Fetscher als wissenschaftlicher Assistent und
Lehrbeauftragter an den Universitäten Tübingen (bis 1956) und Stuttgart
(1957–59).
1959 habilitierte er sich mit seiner Arbeit über „Rousseaus politische
Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs“. Das Buch
erlebte zahlreiche Auflagen und ist bis heute ein Standardwerk der
Rousseau-Literatur geblieben. Fetscher interpretierte Rousseau nicht als
Theoretiker der modernen Demokratie, sondern als Kritiker der alten
feudalen Gesellschaft und der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der
mit der kapitalistischen Dynamik das ethische Fundament und das politische
Augenmaß abhandengekommen sei.
1963 wurde Fetscher als Politikwissenschaftler auf einen Lehrstuhl in
Frankfurt berufen, den er bis zur Emeritierung 1988 behielt, obwohl ihn
zahlreiche Rufe anderer Universitäten erreichten.
## Unverstellter Blick auf Marx' Theorie
Gegen konservativ-staatsfromme Strömungen in der bundesdeutschen
Politikwissenschaft zogen Fetscher und zahlreiche seiner Schüler, die
Professor wurden (Walter Euchner, Eike Hennig, Dieter Senghaas, Gert
Schäfer, Rainer Eisfeld und andere), dem Fach solide
demokratisch-emanzipatorische Fundamente und Verstrebungen ein.
Schon mitten im Kalten Krieg – seit Mitte der 50er-Jahre – beschäftigte
sich Fetscher mit Marx und dem Marxismus und trug damit dazu bei, die
Diskussion über die Marx’sche Theorie, die bis dahin nur aus ideologischen
Schützengräben und antikommunistischen Festungen heraus geführt worden war,
auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben.
Fetscher gehörte zu den Herausgebern und Autoren der seit 1954
erscheinenden „Marxismusstudien“. In seinem mehrfach wiederaufgelegten
Sammelband „Karl Marx und der Marxismus“ präsentierte er seine Aufsätze a…
den „Marxismusstudien“.
Viele dieser Aufsätze sind auch in andere Sprachen übersetzt worden, weil
sie einen vom Marxismus-Leninismus-Konstrukt unverstellten Blick auf Marx’
Theorie ermöglichten und den fundamentalen Widerspruch zwischen
„marxistischer Theorie und sowjetischer Praxis“ ins Zentrum stellten.
Bereits Fetschers Antrittsvorlesung in Tübingen widmete sich dem Thema
„Marxismus und Bürokratie“ (1959). Er zeigte darin, dass „Marx und Engels
leidenschaftliche Gegner der Bürokratie“ waren und dass die bürokratische
Inszenierung unter den Etiketten „real existierender Sozialismus“ oder
„Marxismus-Leninismus“ vor allem dazu diente, „die Parteidemokratie
lahmzulegen“ und einer autoritär herrschenden Oligarchie den Weg zu ebnen.
Die sowjetische Praxis widersprach der – zumindest zeitweise – selbst von
Lenin vertretenen Auffassung: „Besonders wichtige Fragen […] müssen, will
man wirklich demokratisch handeln, nicht durch Entsendung von Vertretern,
sondern durch die Befragung aller Parteimitglieder entschieden werden.“
(Lenin 1907)
Fetscher erkannte den akademischen und politischen Knechten Stalins in
Moskau und Pankow rundweg den Anspruch ab, als Marx’ Erbschaftsverwalter
aufzutreten, und rettete die emanzipatorischen Züge der Marx’schen Theorie
für eine kritische Gesellschaftstheorie.
Fetschers Buch „Von Marx zur Sowjetideologie“ (1956) erlebte bis heute über
zwanzig Auflagen und wurde ebenso zum Klassiker wie die dreibändige
Anthologie „Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten“ (1963–68), die
abgelegene Texte sozialistischer Theoretiker und Politiker wieder
zugänglich machte. 1966 gab Fetscher eine preisgünstige vierbändige
Marx-Studienausgabe heraus, um den Studenten die Scheu vor den 42 blauen
Bänden der Werkausgabe zu nehmen.
## Berater von Willy Brandt
Neben wissenschaftlichen Arbeiten verfasste Fetscher auch launige Bücher
wie „Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Das Märchenverwirrbuch“ (1974) und
„Der Nulltarif der Wichtelmänner“ (1982) – eine sprach- und
ideologiekritische Universitätssatire. Beide wurden Bestseller.
Fetscher war in erster Linie Forscher und Lehrer. Er beriet jedoch auch
Politiker wie Willy Brandt und Helmut Schmidt und gehörte der
SPD-Grundwertekommission an – SPD-Mitglied war er seit 1946, gelegentlich
mit argen Bauchschmerzen.
Ausgestattet mit einem Sensorium für politische Stimmungen und
Wechsellagen, erkannte Fetscher früh die Bedeutung von ökologischen Fragen.
Er sammelte seine Arbeiten dazu unter anderem in dem Band
„Überlebensbedingungen der Menschheit“ (1980) und beanspruchte damit nicht,
„definitive Antworten“ zu liefern, sondern lediglich, „das
Krisenbewusstsein“ zu vertiefen und die damals noch fast ungebrochen
hergebetete kapitalistische Fortschritts- und Wachstumsideologie
theoretisch und politisch zu entzaubern.
Für sein wissenschaftliches Wirken wie für sein politisches Engagement als
Citoyen wurde Fetscher mehrfach geehrt: unter anderem mit der
Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt (1992), mit dem Bundesverdienstkreuz 1.
Klasse (1993) und mit dem Hessischen Verdienstorden (2003). Der Aufklärer
und demokratische Sozialist Iring Fetscher hat die BRD mitgeprägt wie
wenige andere Intellektuelle. Er starb am Samstag im Alter von 92 Jahren.
21 Jul 2014
## LINKS
[1] http://www.iring-fetscher.de/
## AUTOREN
Rudolph Walther
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