# taz.de -- Soziologe über Venezuelas Ökonomie: „Die Regierung sabotiert si… | |
> Edgardo Lander, Soziologe an der Universität in Caracas, kritisiert: Die | |
> Chavisten haben das Ölrentenmodell nie in Frage gestellt. Jetzt steckt es | |
> in seiner finalen Krise. | |
Bild: „Die Orientierung am Erdölexport muss überwunden werden“: Präsiden… | |
taz: Herr Lander, in Venezuela kommt es periodisch zu Unruhen. Auf den | |
verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez folgte Nicolás Maduro. Er bleibt in | |
der Kritik. Warum schaffen es die Linken unter Chávez und Maduro nicht, | |
eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen? Venezuela verfügt immerhin über die | |
weltweit größten Ölreserven. | |
Edgardo Lander: Wir erleben in Venezuela derzeit die finale Krise des | |
Modells eines Rentierstaats. Seit hundert Jahren wird in dem Land Erdöl | |
gefördert. Das Öl ist nicht nur die Grundlage der Wirtschaft, es formt auch | |
die politische Kultur. Schon immer ist es der Staat gewesen, der die | |
Öleinnahmen verteilt. Unter der heutigen Regierung fließt viel Geld in | |
Soziales und andere Projekte für bessere Lebensbedingungen. Doch das | |
Produktionsmodell selbst haben die Chavisten nie in Frage gestellt. Im | |
Gegenteil: 1998, vor der Regierung von Hugo Chávez, machte das Erdöl 68 | |
Prozent des Exportumsatzes aus, letztes Jahr waren es 96 Prozent. Um sich | |
die Zustimmung der armen Bevölkerung zu sichern, hat die Regierung in | |
Maßnahmen investiert, um deren Bedürfnissen kurzfristig gerecht zu werden. | |
Das verfestigte die Orientierung an der Erdölförderung. | |
Ein Klientelismus der an Regime wie in Saudi-Arabien oder Katar erinnert. | |
Auch dort stellt die Regierung mit Ölrenten die Bevölkerung ruhig. Was soll | |
daran für Venezuela auf Dauer emanzipatorisch oder nachhaltig sein? | |
Das ist nicht so einfach. In Venezuela sind heute Millionen Arme, die | |
früher keine Sozialversicherung hatten, abgesichert. Auch die Kultur der | |
politischen Beteiligung hat sich geändert, die Apathie wurde überwunden. | |
Doch die immense Abhängigkeit von öffentlichen Geldern und vom Öl hat | |
tatsächlich keine Zukunft. Nicht nur, weil die Politik an Grenzen stößt, | |
wenn der Ölpreis fällt. Wenn sich eine Gesellschaft transformieren soll, | |
muss sie dezentral organisiert werden. Die Menschen müssen mehr Kontrolle | |
über ihr eigenes Leben bekommen und sich die Produktion aneignen. Das geht | |
nur, wenn man das Produktionsmodell ändert. | |
Solange das Ölrentenmodell herrscht, werden Basisorganisationen ständig | |
ausgebremst, weil deren Kontinuität von staatlichen Zahlungen abhängt. Da | |
sabotiert der Rentier-Staat eine demokratische Entwicklung. Ähnlich sieht | |
es mit der Ernährungssouveränität aus. Laut der Verfassung soll der Staat | |
die interne Nahrungsmittelversorgung sicherstellen und dafür sorgen, dass | |
die Gemeinden selbst Lebensmittel produzieren. Doch derzeit ist es dank der | |
Petro-Dollar günstiger, Lebensmittel zu importieren als selber | |
herzustellen. Auch hier betreibt die Regierung eine Selbstsabotage. | |
Was wäre denn für eine nachhaltigere Entwicklung des Landes vorrangig | |
nötig? | |
Die Orientierung am Erdölexport muss überwunden werden. Das ist schwierig, | |
in der Gesellschaft gibt es einen großen Konsens über die nationale | |
Ölpolitik. Für Venezolaner ist Venezuela ein reiches Land. Entsprechend ist | |
ihre Haltung: Wir haben die größten Erdölreserven der Welt und deshalb das | |
Recht, reich zu sein. Auch wenn wir nicht arbeiten. Das gilt für die | |
Chavisten wie deren Opposition. | |
Könnte denn die chavistische Bewegung ohne Klientelismus und das Verteilen | |
von Petro-Dollar überleben? | |
Manche politische und soziale Organisationen sind nur aufgrund öffentlicher | |
Zuwendungen entstanden. Andere agieren aber immer auch schon unabhängig von | |
staatlicher Unterstützung. Die Bewegung würde ohne staatliche Zuwendungen | |
nicht einfach zusammenbrechen. | |
Wie groß ist die Leerstelle, die die Kultfigur Chávez hinterlassen hat? | |
Chávez war eine charismatische Führungsfigur. Er konnte die Massen | |
einbinden, Parolen vorgeben und hatte eine erzieherische Fähigkeit. Sie | |
gewann Wahlen, wehrte den Putsch ab und siegte gegen den Streik der | |
Ölindustrie. Das hat viele Venezolaner mit ihm zusammen geschweißt. | |
Und dieses Gefühl existiert unter seinem Nachfolger Maduro weiter? | |
Mit wichtigen Unterschieden. Chávez konnte Differenzen vereinen. Maduro | |
kann das nicht. Es gibt heute aber einen Pluralismus, der vorher nicht | |
existierte. Das hat Vor- und Nachteile. Die Leute trauen sich, die | |
Regierung offen zu hinterfragen. Mit Blick auf die Krise des Landes fehlt | |
Maduro jedoch die Fähigkeit, die Bewegungen davon zu überzeugen, das er das | |
Richtige tut. Die Regierung ist heute schwächer als früher. | |
Inflation, Mangelwirtschaft, willkürliche Verhaftungen – die Opposition hat | |
allen Grund, auf die Straße zu gehen? | |
Die Opposition nutzt die ökonomische Krise. Die Opposition um Henrique | |
Capriles wählte nach dem Tod von Chávez den demokratischen Weg und unterlag | |
Maduro vergangenes Jahr nur knapp. Doch sie ist nicht geeint. Deshalb | |
setzten die Rechten weiter auf Konfrontation, als Capriles’ Leute mit der | |
Regierung verhandelten. | |
Maduros Regierung reagierte auf die Proteste mit Gewalt. | |
Ja. Es handelte sich aber auch um einen Versuch, die Regierung zu stürzen. | |
Da waren nicht nur, wie oft behauptet wird, friedliche Studenten, die | |
öffentliche Universitäten verteidigen wollten, auf den Straßen. | |
Gesundheitszentren wurden angezündet, Molotowcocktails auf Menschen | |
geworfen. | |
Organisationen wie Amnesty International werfen Maduros Sicherheitsapparat | |
Folterungen vor, oppositionelle Politiker wurden verhaftet. | |
Ich möchte die Repression nicht rechtfertigen. Doch es ist sehr schwierig | |
herauszufinden, wie viele von den 41 Morden die Regierung zu verantworten | |
hat und wie viele die Opposition. Auf jeden Fall waren die politischen | |
Kosten für die Regierung sehr hoch. | |
Auch andere in Südamerika, wie der mit der venezolanischen Regierung | |
„befreundete“ ecuadorianische Präsident Rafael Correa, gehen hart gegen | |
Oppositionelle vor. In Ecuador wollen die Leute mehr Demokratie und mehr | |
Rechte für die Natur. Wieso reagiert jemand wie Correa darauf so | |
empfindlich? | |
Correa glaubte nie an diese Geschichten des „buen vivir“, des „Rechts von | |
Mutter Natur“ in Verbindung mit einem Wohlfahrtsstaat. Er ist von der Idee | |
des Fortschritts sowie des Nationalstaats überzeugt und tastet dabei die | |
Reichen nicht an. Mit seinem früheren Mitstreiter Alberto Acosta, der das | |
Buen-vivir-Konzept vertrat, hat er sich überworfen. Das führte zum Bruch | |
mit indigenen und ökologisch orientierten Organisationen. Dennoch konnte er | |
eine tatsächliche Verbesserung der Lebensqualität der armen Bevölkerung | |
erreichen. Doch die Grundlage dieser Entwicklung ist auch hier die massive | |
Ausbeutung von Rohstoffen. | |
Auch Boliviens Staatschef Evo Morales wirft der Umweltbewegung vor, sie | |
würde mit ihrer Politik den Indigenen ihr Recht auf Bildung und Wohlstand | |
verweigern. | |
Wenn wir von einer sozialistischen Revolution im 20. Jahrhundert sprächen, | |
vom Modell der Entwicklung der Produktivkräfte, hätte er vielleicht recht. | |
Aber heute zwingt uns der Zustand der Welt, den Kampf für eine | |
postkapitalistische Gesellschaft mit der Überwindung einer einseitig an | |
Konsum orientierten Gesellschaft zu verbinden. An diesem Punkt irrt auch | |
der Marxismus vollkommen. Er basiert auf der westlichen Kultur, die der | |
Idee verhaftet ist, es gäbe eine Entwicklung ohne Ende. Dies ist ein | |
Irrtum. Natürlich werden wir nicht auf Wissenschaft und Technologie | |
verzichten können, die über den Kapitalismus produziert wurden. Wenn wir | |
aber die zivilisatorische Krise angehen wollen, braucht es eine | |
tiefgreifende Transformation der Lebenskultur. | |
Wir können nicht einfach neue Technologien schaffen und dasselbe | |
weiterbetreiben. Wir müssen anders leben. Mit anderen Modellen des Konsums, | |
mit auf Harmonie basierenden Beziehungen zwischen Mensch und Natur und mit | |
einer Abkehr von der Ungleichheit, die auf dem Planeten herrscht. Die | |
privilegierten Teile der weltweiten Gesellschaft werden dabei ihren Konsum | |
drastisch einschränken müssen. Daran kann es keinen Zweifel geben. | |
10 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Wolf-Dieter Vogel | |
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