# taz.de -- Philosoph Baruch de Spinoza: Radikal diesseitig | |
> Sind Poststrukturalismus und Marxismus miteinander vereinbar? Eines haben | |
> sie gemeinsam: den Bezug auf Spinoza. Er wird gerade neu entdeckt. | |
Bild: Spinioza versuchte, die Gesellschaft aus sich selbst heraus zu erklären. | |
Eine der großen Fragen kritischer Theoriedebatte lautet, ob | |
Poststrukturalismus und Marxismus miteinander vereinbar sind. Während die | |
einen darauf verweisen, dass sich Michel Foucault und Gilles Deleuze in den | |
1970er Jahren klar aufseiten der (überwiegend marxistischen) radikalen | |
Linken verorteten und für die entpolitisierte Rezeption ihrer Arbeiten | |
nicht verantwortlich gemacht werden können, heben andere die methodischen | |
Gegensätze hervor: Der Marxismus will Herrschaftsverhältnisse von dem | |
zentralen Widerspruch Kapital/Arbeit herleiten, Poststrukturalisten | |
hingegen geht es darum, die vielfältigen Entwicklungslinien der Macht | |
anhand von Körperregimen, Selbstwahrnehmungen, Diskursen, Wissensformen | |
usw. nachzuzeichnen. | |
Tatsächlich liegen schon sprachlich Welten zwischen den Theorieschulen. | |
Während der Marxismus auf apodiktische Realitätsbeschreibungen setzt, sind | |
poststrukturalistische Darstellungen oft von einer programmatisch bewusst | |
gewählten Unschärfe geprägt. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten: Neben dem | |
eher allgemeinen Interesse an der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse | |
ist da beispielsweise der Bezug auf den Philosophen Baruch de Spinoza. Der | |
1632 in den Niederlanden geborene Aufklärer ist in den letzten Jahren von | |
verschiedener Seite neu entdeckt worden. | |
Marxistische und linksliberale Theorie interessieren sich für ihn, weil er | |
als früher Religionskritiker die Gesellschaft aus sich selbst heraus (also | |
immanent, ohne Rückgriff auf höhere Mächte) zu erklären versuchte, | |
gleichzeitig aber auch – ganz dem politischen Realismus verpflichtet – nach | |
der faktischen Machbarkeit einer demokratischen Staatsform fragte. | |
In diesem Sinne kann man Spinoza, wie es der italienische Philosoph Toni | |
Negri tut, durchaus materialistisch lesen. Auf der anderen Seite ist | |
Spinoza aber auch für poststrukturalistisches Denken attraktiv, da er mit | |
seinen Abhandlungen über die Affekte emotionale und identitätsformende, | |
also biopolitische Aspekte der Gesellschaft thematisierte. | |
## Dynamisches Machtverständnis | |
Diese Aktualität Spinozas als Begründer gesellschaftskritischer Theorie | |
steht auch bei den Neuerscheinungen von Martin Saar und Christoph Dittrich | |
im Mittelpunkt. Der in Frankfurt lehrende Sozialwissenschaftler Saar legt | |
mit „Die Immanenz der Macht“ eine extrem kompetente Einordnung von Spinozas | |
Schriften in die politiktheoretischen Debatten der Gegenwart vor. | |
Sein Hauptaugenmerk gilt dabei Spinozas Machttheorie, die in den letzten | |
Jahren vor allem durch Negri/Hardts „Multitude“ popularisiert wurde. Saar | |
grenzt sich dabei allerdings klar von Negri ab. Während Negri bei Spinoza | |
eine eindeutige Unterscheidung zwischen der schaffenden potentia (der | |
Multitude) und der unterbindenden potestas (des Empires) erkennt, | |
insistiert Saar, dass Macht bei Spinoza stets ambivalent gedacht sei. | |
Daraus folgert er, dass es weder „den einen Ort der Macht“ noch eine „rei… | |
Abwesenheit von Macht“ geben kann. Dieser Ansatz führe, so Saar, aber nicht | |
zu analytischer Beliebigkeit, weil Spinozas dynamisches Machtverständnis | |
immer auch die Frage nach den unterschiedlich großen Handlungsspielräumen | |
von Akteuren aufwerfe. | |
Saar gelingt es in seinem Buch aber nicht nur, die Grundlagen des | |
politischen Denkens bei Spinoza herauszuarbeiten, sondern er zeigt auch die | |
Anknüpfungspunkte für poststrukturalistische, linksliberale, marxistische | |
und feministische Debatten auf. Manchmal schlingert er dabei etwas | |
unentschlossen zwischen einer subversiven und einer | |
herrschaftsimmanent-machttechnischen Interpretation. So passt sein | |
Interesse an Negri, Butler oder Althusser nicht recht zu dem von ihm | |
formulierten Angebot, Spinozas Machttheorie für die (durch und durch | |
herrschaftskonforme) Governance-Forschung der | |
Mainstream-Politikwissenschaften nutzbar zu machen. | |
## Macht als niedrigste Stufe des Vermögens | |
Einen ganz anderen, begrenzteren, aber nicht minder intelligenten Ansatz | |
verfolgt Christoph Dittrich in „Weder Herr noch Knecht“. Der Kölner | |
Philosoph rekonstruiert die von Deleuze 1980/81 in Vincennes gehaltenen | |
Vorlesungen zu Spinoza und legt dabei die Herrschaftskritik von Deleuze | |
frei, bei der Macht als niedrigste Stufe des Vermögens interpretiert wird. | |
Deleuze arbeitete in den Vorlesungen zunächst heraus, wie Spinoza die | |
Abkehr von der Philosophie seiner Zeit betrieb und welche Rolle der Begriff | |
der Immanenz dabei spielte. Wenn Menschen und Gesellschaft aus sich selbst | |
heraus erklärt werden sollen, dann gilt es zu verstehen, wer diese | |
„vermögenden“ Körper eigentlich sind. In diesem Sinne wandte sich Deleuze | |
in einem zweiten Schritt den unterschiedlichen Schichten der Individualität | |
zu und gelangte zu der Fragestellung, was die ihr Vermögen unterdrückenden | |
Individuen – sowohl Knechte als auch Herren – eigentlich bewegt. Es geht | |
also um die autoritäre Existenzweise und Auswege daraus. | |
Mit „Weder Herr noch Knecht“ legt Dittrich den Blick auf den politischen | |
Deleuze frei, der hinter wuchernden Reflexionen zu Literatur, Musik, | |
Anthropologie und Botanik manchmal verloren zu gehen droht, und skizziert, | |
dass der spinozistische Deleuze auch einem kritischen Marxismus einiges zu | |
sagen hätte. | |
19 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Raul Zelik | |
## TAGS | |
Philosophie | |
Marxismus | |
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