# taz.de -- Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler: Mit eisernem Besteck | |
> Hans-Ulrich Wehler war der vielleicht einflussreichste Historiker der | |
> Bundesrepublik. Doch am Ende verstand er diese Republik nicht mehr. | |
Bild: Hans-Ulrich Wehler 2008 auf der Frankfurter Buchmesse. | |
Es erscheint uns selbstverständlich, dass wir Geschichte nicht als Analyse | |
von Institutionen oder gar von großen Männern, die große Dinge tun, | |
verstehen. Dass dies so ist, verdanken wir auch Hans-Ulrich Wehler. Wer | |
weiß, ob unser Geschichtsbild ohne den Autor der monumentalen „Deutschen | |
Gesellschaftsgeschichte“ ähnlich differenziert wäre? | |
Wehler, Begründer der Bielefelder Schule, hat die | |
Sozialgeschichtsschreibung für die Bundesrepublik adaptiert, formuliert und | |
durchgesetzt. Er blieb, unbeirrt von Moden, Anhänger von Max Weber und | |
dessen Konzept, Gesellschaft in drei Sphären darzustellen: Wirtschaft, | |
Politik, Kultur. Wer Gesellschaft verstehen will, muss Rationalisierungen, | |
Klassenspaltung und soziale Ungleichheit untersuchen. Dieses eiserne | |
analytische Besteck blieb über die Jahrzehnte bemerkenswert gleich, | |
erweitert schließlich um Pierre Bourdieus soziologische Theorien. | |
Diese Art der Geschichtsschreibung stand in den 60er Jahren, wie Wehler | |
gern amüsiert berichtete, im Ruch marxistischer Inspiration. Nichts war | |
falscher als das! Die Sozialgeschichtsschreibung kam aus den USA, Marxismus | |
war Wehler planetenfern. Sein Klassenbegriff war empirisch und bar jeder | |
teleologischen Überhöhung. | |
## Ein barscher Antiideologe | |
Wie viele seiner Generation, die verführte, überzeugte Hitlerjungen gewesen | |
waren, war der Bielefelder Historiker imprägniert gegen alles Ideologische. | |
Ja, er war auf eine Art antiideologisch, die in ihrer barschen | |
Verständnislosigkeit selbst etwas Ideologisches haben konnte. Ein beredtes | |
Zeugnis dieser Ignoranz ist die Schilderung der DDR im fünften Band seines | |
Opus magnum, der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“. Die DDR erscheint | |
darin als ferngesteuerter sowjetischer Satellit. Dass es dort auch sich | |
verändernde Lebenswelten gab, blieb jenseits des Blicks. | |
In diesem fünften Band ist Bestaunenswertes zu finden, die beeindruckende, | |
leichthändige und zu klaren Bildern verdichtete empirische Analyse. Aber | |
sichtbar ist auch eine Art generationeller Beschränktheit. Zum spezifisch | |
Neuen der Bundesrepublik, wie Migration und postmateriellem Abschied von | |
der klassischen Industriegesellschaft, fiel dem Sozialhistoriker nicht viel | |
ein. Es passte nicht ins Raster. | |
Der Postmaterialismus erscheint als zeitgeistiges Luxusphänomen, an das | |
sich nach der nächsten Wirtschaftskrise niemand mehr erinnern wird. Bei | |
dieser Diagnose mag der Wunsch Vater der Analyse gewesen sein: Für Wehler, | |
typisch für die Generation der HJ und des Wiederaufbaus, zählte Leistung. | |
Für Hedonismus, Gender, Post-68er fehlten ihm Antennen. In den späten | |
Schriften wurden politische Zu- und Abneigungen überdeutlich. | |
Zeitzeugenschaft kann auch ein arger Feind des Historikers sein. | |
## Nicht weit von Sarrazin entfernt | |
Noch krasser war der Irrtum bei der Migration. Anstatt das Multikulturelle | |
als fundamentale Umformung der Republik zu begreifen, finden sich nur | |
abschätzige Notizen über „bildungsferne Migranten in ghettoartigen | |
Wohnquartieren“. Das war nicht weit von Sarrazin entfernt. Dass Wehler mit | |
viel Verve und wenig guten Argumenten die These verfocht, dass die Türkei | |
nicht zu Europa gehöre, passt ins Bild. Der Historiker der Bundesrepubik | |
hat am Ende die Republik nicht mehr verstanden. | |
Wehler war zeitlebens mit dem zwei Jahre älteren Jürgen Habermas | |
befreundet, den er in Gummersbach in der Hitlerjugend kennen lernte. 1986 | |
zogen beide, der Empiriker und der Theoretiker der Bundesrepublik, gegen | |
den Versuch von Ernst Nolte, den Nationalsozialismus als Reflex auf den | |
Bolschewismus zu deuten, ins Feld. Diese militärische Vokabel passt in | |
Wehlers Verständnis, dass Wissenschaft „agonaler Wettbewerb“ ist, eine Art | |
Leistungssport. | |
Beim „Historikerstreit“ ging es am wenigsten um historische Fakten. Er war | |
vielmehr ein Kampf um die Deutungshoheit im Verhältnis der Bundesrepublik | |
zum Nationalsozialismus. Dieser Zwist endete mit einem Triumph der | |
Linksliberalen Habermas & Wehler und der Selbstisolierung Noltes. Diese | |
Kontroverse besiegelte damals das Selbstverständnis der Republik – nämlich | |
dass die Anerkennung der Schuld untrennbar Teil des bundesrepublikanischen | |
Selbstverständnisses ist. | |
Nichts hat Wehler, der 1945 vierzehn Jahre alt war, so geprägt wie die | |
Nazikatastrophe. Schon der Junghistoriker unterstützte 1961 Fritz Fischer, | |
der unerhörterweise eine Linie sichtbar machte, die von dem Imperialismus | |
des Kaiserreichs bis zu den Nazis reichte. Selbstaufklärung über die | |
NS-Zeit war eine Leitidee von Wehlers Werk. | |
Der Oxford-Historiker Richard Evans bemerkte, er habe von Wehler nicht nur | |
fachlich einiges gelernt, sondern auch eine beeindruckende Zahl deutscher | |
Schimpfwörter. Hans-Ulrich Wehler war Empiriker und Polemiker, eine eher | |
seltene Kombination. Am Samstag ist er, 82 Jahre alt, gestorben. | |
7 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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