# taz.de -- Franz Wittenbrink über Revoluzzertum: „Mein Masterplan war die R… | |
> Franz Wittenbrink langweilten die Liederabende in den 80ern so sehr, dass | |
> er ein neues Theatergenre erfand. Sein Stück „Nachttankstelle“ spielt an | |
> den Esso-Häusern auf der Reeperbahn. | |
Bild: "Die Liebe zu einer bestimmten Musik ist durch nichts totzukriegen": Fran… | |
taz: Herr Wittenbrink, mit Ihrem ganz eigenen Konzept musikalischer | |
Theaterabende sind Sie seit Ende der 1980er-Jahre erfolgreich. Die | |
damaligen Liederabende an den Theatern sollen Sie sehr gelangweilt haben. | |
Franz Wittenbrink: Es gab damals zwei Sorten von Liederabenden. Einmal mit | |
linken Autoren wie Brecht oder Tucholsky, die immer ein bisschen sehr | |
politisch korrekt und belehrend waren. Und dann gab es noch sogenannte | |
schlüpfrige Liederabende, wo aus Büchern wie „Die literarische Sau“ die | |
schlimmsten Altherrenwitze bei Goethe oder Schlegel zitiert wurden. Die | |
waren ein riesiger Erfolg, weil man sich literarisch abgesichert ein | |
bisschen frivoles Zeug angucken konnte. Mit der existierenden Musik wurde | |
sich überhaupt nicht auseinandergesetzt. | |
Sie haben begonnen, Liederabende szenisch zu inszenieren – mit einem | |
Repertoire von Klassik bis Schlager. Gab es Widerstand von Seiten der | |
Theater? | |
Naja, mit dem Liederabend habe ich ja keine heilige Kuh geschlachtet. Ich | |
habe gedacht, Schauspieler können doch Figuren darstellen und Geschichten | |
vortragen. Außerdem können sie besser singen, als man denkt. | |
Sie sind klavierspielend in einer Bar für das Theater entdeckt worden und | |
waren zunächst skeptisch, ob Sie dort hingehören. Hatten Sie je einen | |
Masterplan für Ihre Karriere? | |
Mein Masterplan war die Revolution. Mein Vater war erzkatholisch und im | |
CDU-Stadtrat von Bentheim, mein Onkel Alfons Goppel bayerischer | |
Ministerpräsident, da musste man erstmal auf eigene Beine kommen. Auch wenn | |
ich den Krieg selbst nicht mehr erlebt habe, sind mir der Geruch und die | |
Farben, aber auch die Enge und diese verlogene Moralität noch sehr präsent. | |
Einer der wichtigsten Gründe, warum ich Revoluzzer werden wollte, war eine | |
Diskussion zwischen meinem Vater und meinen Onkeln. Es ging darum, ob ein | |
katholischer Eid, auf Hitler geschworen, religiös bindende Wirkung hat. Im | |
Nachhinein verstehe ich diese Sehnsucht, nach der brutalen Energie dieser | |
Kriegszustände geordnete und vor Gott vertretbare Verhältnisse zu haben. | |
Aber damals habe ich nach dem Abitur den Platz in der Meisterklasse Klavier | |
abgelehnt, weil ich der Meinung war, für die Bourgeoisie spiele ich nicht. | |
Sie waren Mitbegründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands. Und | |
heute nennt Sie die Zeitung Die Welt den „heimlichen Musicalkönig“ eines | |
„bürgerlichen Millionenpublikums“. Fühlen Sie sich missverstanden? | |
Nein, ich spiele sehr gerne für die Bourgeoisie und die Menschen im | |
Allgemeinen. Diese relativ mechanische Unterscheidung des Marxismus mache | |
ich nicht mehr. Und an der Definition von Arbeiterklasse hat sich jedes | |
sozialistische Regime die Zähne ausgebissen. Ich bin heute eher da, wo ich | |
mit 16 Jahren stand. Da war mein Anspruch Humanismus. Man muss soziale | |
Möglichkeiten finden, um Ungerechtigkeiten abzubauen. | |
Bei allem Revoluzzertum: Dem Klavier, dem Instrument Ihrer katholischen | |
Kindheit, sind Sie immer treu geblieben. Wollten Sie nie E-Gitarre spielen | |
und Rockstar werden? | |
Komischerweise nein. Das liegt daran, dass ich kein Instrument so gut | |
beherrsche wie das Klavier. Aber mich erstaunt manchmal selber, dass die | |
Liebe zu einer bestimmten Musik durch nichts totzukriegen ist. Ich bin ja | |
mit neun Jahren ins Musikinternat der Regensburger Domspatzen gekommen. | |
Dort herrschten Verhältnisse wie im finstersten Mittelalter: Prügelstrafe, | |
Sadismus, Kindesmissbrauch. Gleichzeitig war es die beste Musikausbildung, | |
die man bekommen konnte. Wenn ich in den Dom gegangen bin und Mendelssohn | |
gesungen habe, habe ich mir nur gedacht: Mein Gott, diese Klänge. | |
Ist die Konzeption eines Liederabends über Asyl und Fremdheit schwieriger | |
als einer über die Liebesprobleme von Sekretärinnen? | |
Im Grunde genommen sind mir die politischen Themen sogar näher, weil ich | |
diese widersprüchlichen Traditionen in mir trage und ich mich schon mein | |
ganzes Leben damit auseinandersetze. Bei jedem Abend, auch den | |
unpolitischen, versuche ich immer, etwas Ideologieskeptisches zu fördern. | |
Ich möchte zeigen: Sobald jemand mit einem klaren Gebäude kommt, muss man | |
aufpassen. | |
„Sekretärinnen“ am Hamburger Schauspielhaus war 1995 ihr erster Erfolg. Wie | |
hat es Sie nach Hamburg verschlagen? | |
Musikalisch durch den ehemaligen Intendanten des Schauspielhauses Frank | |
Baumbauer, mit dem ich schon meinen allerersten Liederabend in Basel | |
gemacht hatte. Privat habe ich irgendwann wegen meiner Kinder einen festen | |
Wohnsitz gebraucht und Hamburg vor Berlin den Vorrang gegeben. Vielleicht | |
bin ich vom Lebensgefühl so bourgeois, dass ich lieber in Hamburg bin als | |
in diesem aufgeregten, etwas präpotenten und verlogen verrückten Berlin. | |
Eine Ihrer aktuellen Inszenierungen, „Nachttankstelle“ am | |
St.-Pauli-Theater, spielt an den Esso-Häusern. Haben Sie das Stück nach der | |
Evakuierung der Häuser verändert? | |
Ja, wenn der Vorhang aufgeht, ist da ein Baustellenabsperrband und ein | |
Transparent, auf dem steht: Esso-Häuser bleiben. Und Peter Franke sagt: | |
„Weihnachten haben wir doch lieber Spekulatius als Spekulanten.“ Ich meine, | |
an der Baufälligkeit dieser Häuser besteht wohl kein Zweifel. Aber jeder | |
weiß, dass die Besitzer dem Zerfall auch genüsslich zugeguckt haben. Ich | |
fürchte, die ziehen das jetzt durch. | |
Recherchieren Sie eigentlich für Ihre Stücke? Waren Sie mal auf einem | |
Kreuzfahrtschiff der Aida-Flotte oder haben Putzfrauen im Puff interviewt? | |
Die Putzfrauen nicht, aber ich habe längere Zeit als Müllfahrer gearbeitet | |
und diese Firma hatte auch Putzkolonnen. Daher kenne ich die Geschichten | |
ganz gut. Und „Aida“ ist ein ganz komisches Produkt. Ich wurde mal | |
angefragt, ob ich für die Jungfernfahrt eines Luxusdampfers das | |
Eröffnungsprogramm machen wollte und als ich sagte, ich habe keine Ahnung, | |
worüber ich da schreiben solle, wurde ich eingeladen. Ich bin da also mit | |
all meinen Vorurteilen gegenüber Klaustrophobie und Zwangsbespaßung hin. | |
Einerseits ist es schon hochdekadent, täglich Austern zu schlürfen. | |
Andererseits ist man auch verführbar. Mein nächstes Stück geht über | |
Ladyfitness-Studios, da kann ich selber nicht rein. Aber da frage ich meine | |
Töchter. | |
Die soziale Spannbreite Ihrer Figuren ist sehr breit. Aber auch wenn es | |
deftig oder ironisch wird, wahren Sie immer den Respekt. | |
Ich liebe meine Figuren, immer. Ich versuche, auch im letzten Trottel den | |
Menschen zu entdecken. Die meisten sind doch nur Trottel aus Verzweiflung | |
oder Angst. Ich glaube, es kommt nicht häufig vor, dass jemand aus Absicht | |
böse ist. | |
Trotz aller Skepsis gegenüber klaren Strukturen leben Ihre Liederabende | |
auch immer vom Klischee: „Männer“ im Fußballstadion und „Mütter“ auf… | |
Spielplatz. | |
Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zum Klischee. Das Leben ist oft | |
peinlich nah am Klischee. Und wenn man es hinterfragt, ist es eine | |
Modifizierung des Klischees. Das Bedienen von Klischees ist für mich der | |
Versuch, auf einem schnellen Weg eine Figur ungefähr zu umkreisen. Bei | |
diesen Äußerlichkeiten darf es natürlich nicht bleiben. Das Muttersöhnchen | |
in „Männer“ zum Beispiel: Wenn man nur über diesen lebensunfähigen Mensc… | |
lacht, bin ich im Klischee hängen geblieben. Wenn ich es aber schaffe zu | |
zeigen, wie er in seiner Mutterliebe verzagt und es deswegen nicht schafft, | |
sich in dieser harten Welt durchzusetzen, kann ich den Zuschauer vielleicht | |
dazu kriegen, ein Herz für diese Figur zu haben. | |
Wie steht es um Ihren Plan, das Musiktheater à la Brecht und Weill wieder | |
aufleben zu lassen? | |
Man gebe mir den Autoren! Es gibt kaum Texte, in denen Spitzen gegen die | |
Gesellschaft einfach und verständlich auf den Punkt gebracht werden. | |
Volkstheater ist ja so ein Begriff, über den die Kulturschickeria gerne die | |
Nase rümpft. Aber nehmen Sie jemanden wie Billy Wilder, ein | |
hochintellektueller Typ. Ich kenne keinen besseren Film, der besser in die | |
Kapitalismus-Kommunismus-Wunde reinhaut als „Eins, zwei, drei“ – und das | |
mit einem befreienden Lachen und nicht mit dieser Moralkeule, wo man als | |
geprügeltes Kind den Saal verlässt. | |
Gibt es eigentlich einen Song, den Sie immer mal in einem Ihrer Abende | |
unterbringen wollten, aber noch nicht die richtige Gelegenheit gefunden | |
haben? | |
Das „Miserere“ der Karfreitagsliturgie des italienischen | |
Renaissance-Komponisten Gregorio Allegri. Das ist ein ganz einfaches | |
Musikstück. Aber wenn es einen Himmel gibt, muss er in diesen Klängen | |
liegen. Das werde ich in einem Stück über Missbrauch aus der Perspektive | |
der Kinder verwenden. Nicht als Anklage der Täter, sondern um diese | |
komische Form von Lebensrettung zu zeigen, die Kinder untereinander und | |
durch die Musik praktizieren und die ich im Internat auch erlebt habe. Ich | |
möchte mit diesem Tabuthema menschlich umgehen, und das ist der Moment, in | |
dem das „Miserere“ zum Einsatz kommen soll. | |
20 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Hanna Klimpe | |
## TAGS | |
Theater Bremen | |
Karl Marx | |
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