| # taz.de -- Comeback der Liederabende: Gesungene Lockerungsübungen | |
| > Liederabende haben Konjunktur: In Hannover besingen „Held*innen“ | |
| > Gender-Identitäten, in Bremen erklingt eine Hommage an Madonna. | |
| Bild: Aufgetakelt abgrooven: In Hannover dienen die Songs als Spielwiese für C… | |
| Bremen taz | Popmusik auf Theaterbühnen, Schauspieler in Gesangsrollen mal | |
| ganz anders erleben, da strömt das Publikum frohlockend herbei. | |
| Unverminderter Beliebtheit erfreut sich dabei, das Leben verwitterter Stars | |
| in Biografiedramen nachzuerzählen. Ausgereizt schien hingegen der szenische | |
| Liederabend. In Bremen und Hannover wird ihm nun aber ein Comeback | |
| beschert, allerdings entscheidend anders, als Franz Wittenbrink das Genre | |
| begründet hat. | |
| Seit Mitte der 1990er-Jahre haben er und seine Epigonen für mehr als eine | |
| Dekade einen Publikumshit nach dem anderen herausgebracht. | |
| Stellvertreterfiguren für bestimmte politische Einstellungen zu | |
| zugespitzten Themen verorten sie in einer alltäglichen Situation, stricken | |
| mit kabarettistischem Geist ein bisschen Handlung drumherum und | |
| implantieren als Kommentare einige deutsch- oder englischsprachige | |
| Schlager. Nicht wie bei klassischen Liederabenden wird beim Singen | |
| ansatzweise auch gespielt, sondern während des Spielens einfach mal | |
| gesungen. In einen Schwebezustand zwischen Spaß und Ernst – egal ob es um | |
| die Sorgen, Nöte und Lustbarkeiten von Männern, Sekretärinnen, Müttern, | |
| Flugreisenden geht, um Zigarren, Vatertag, den Tod oder die Liebe. So | |
| einige Sujets der Produktionen. | |
| Bei den Neuansätzen wird nun nicht mehr mithilfe konventioneller | |
| Komödienszenen aus Liedern ein dramaturgischer Zusammenhang kreiert, | |
| sondern beinahe vollständig auf Sprechtext verzichtet: Handlung und Dialog | |
| findet über Songs statt. | |
| In Hannover hat Friederike Schubert „Held*innen“-Songs zusammengestellt, | |
| ein Potpourri aus Ohrwürmern, deren Inszenierung locker machen soll, für | |
| diverse Möglichkeiten von Gender-Identitäten. Entsprechend aufgetakelt | |
| grooven sich die Darsteller ein. Schultern zucken, Hüften schlenkern, Knie | |
| wippen, Köpfe wackeln, bis Nina Simones „Sinnerman“ entspannt von vier | |
| Schauspieler*innen-Lippen kommt. Ein glamouröser Typ gibt | |
| anschließend Britney Spears „Womanizer“, eine entsprechende Dame entledigt | |
| sich Justin Timberlakes „Sexy black“ mit cool verruchtem Gesang, woraufhin | |
| eine Chanteuse hinreißend „Big balls“ von AC/DC anstimmt, als wäre es eine | |
| Ballade der Tiger Lillies. | |
| ## Crossgender, nett gemeint | |
| Die Interpreten sind meist gegen das biologische Geschlecht des Originals | |
| besetzt, dazu hat Tobias Vethake allen Liedern ähnlich süffige Arrangements | |
| verpasst, die popkuschelweich erblühen und sanft melancholisch durch die | |
| Takte schwelgen. Gesanglich setzen die Schauspieler kaum Eigensinniges | |
| gegen die aus Funk und Internet bekannten Versionen. Nur Caroline Junghans' | |
| Darbietungen sind stets prachtvolle Interpretationen. Darstellerisch ist | |
| Torben Kessler herausragend, herrlich schlurfig unterläuft er jedwedes | |
| Pathos und deutet die Attitüden der Stars nur an. | |
| Inszenatorisch hat Schubert allerdings kaum Ideen. Prince' „I would die 4 | |
| U“ ist Anlass für die Balgerei zweier Sänger*innen um die Aufmerksamkeit | |
| im Parkett, zu David Bowies „Heroes“ darf ein Zuschauerdarsteller auf der | |
| Bühne sein Ballett-Coming-out leben, mal wird Soul-Shouter-Gehabe in die | |
| Parodie getrieben, und Liebeslieder illustriert die Regie mit | |
| Pärchenanbahnungsspielchen. Liebevolles Schmunzeln allüberall. Letztlich | |
| sind die Songs nur für die glitter-flitterig servierten | |
| Crossgender-Besetzungen inklusive dem nett gemeinten Hinweis da: Lebe wie | |
| du bist. | |
| Also genau das, was Exegeten auch aus Madonnas Œuvre als Botschaft | |
| herauslesen. Anne Sophie Domenz will in Bremen aber mehr mit ihrer | |
| Produktion „In bed with Madonna“ erzählen. Die Fokussierte soll anhand | |
| ihrer Hits als Star des Postfeminismus gefeiert werden. Erst mal erscheint | |
| sie in Gestalt von Annemaaike Bakker, die sich in den letzten Jahren zu | |
| einer formidablen Sängerin entwickelt hat. Stücktitelgemäß beginnt sie | |
| ihre Performance im Bett eines Jugendzimmers und singt Madonnas ersten Hit | |
| „Holiday“, eine harmlose Fantasie von ein bisschen Liebe, die die Welt ein | |
| bisschen besser machen könnte. | |
| Das ist den Darstellern ihrer schwerst katholischen Eltern schon zu viel. | |
| Sie fesseln die Tochter auf der Matratze, legen ihr ein Püppchen in den | |
| Arm, Bekreuzigungen folgen und die Verabreichung von Pillen zum | |
| Ruhigstellen, vielleicht sind es auch Drogen. Dumpfer wird jedenfalls der | |
| Soundtrack, für den Multiinstrumentalistin Maartje Teussink die Hits live | |
| skelettiert und mit reizvoll sparsamen Klangkreationen zu neuem Leben | |
| verhilft. | |
| Die Inszenierung träumt sich derweil in die Popstarkunstwelt hinein. Der | |
| anbetungswürdig zur christkindlichen Madonna hergerichtete Alexander | |
| Angeletta schwebt auf die nun nebulöse Bühne herab und stimmt „Like a | |
| virgin“ an, während die bunt tapezierte Stellwand und Accessoires des | |
| erzkonservativen Elternhauses der Protagonistin beiseite geschafft werden. | |
| Künstlerische Erweckung, persönliche Befreiung, Aufbruch nach New York. | |
| In Hannover steht der Song ebenfalls auf der Setlist, kommt auch dort im | |
| Nebel zu Gehör. In schlapper Körperhaltung, mit beiläufigen | |
| Sexyness-Gesten, kokett angedeuteten Starposen und zeitlupig stolzierendem | |
| Schreiten dargeboten von einem übernächtigt wirkenden Glamrocker. Prima | |
| ironische Show. In Bremen ist hingegen eine songdramatische Erzählung zu | |
| erleben. Das Konzept funktioniert anfangs bestens, ist zunehmend aber | |
| schwer nachvollziehbar, da die Lyrics, politischen und biografischen | |
| Kontexte, Video- und Konzertbühneninszenierungen Madonnas bekannt sein | |
| müssen, um im Abgleich mit der Darbietung deren Subtexte zu verstehen. | |
| Beispielsweise weht Marilyn Monroes trunkenes „Happy birthday“ für | |
| Präsident Kennedy verfremdet vorüber, wohl als Hinweis, das Madonna als | |
| Nachahmerin dieses Blondinen-Images durchgestartet ist – und sich im Laufe | |
| der Karriere stets neuer Frauenklischees bediente. Auf der Bühne erscheinen | |
| ihre Darsteller*innen in schwarzem Leder, als Strapsen-Diva, | |
| Haute-Couture-Party- oder Bad-Girl, Bakker wälzt sich in einer | |
| Rotlichtorgie zu „Erotica“ auch lasziv auf dem Boden herum. Deutlich wird | |
| allerdings nicht, dass diese Rollenspiele auch pompöse Marketingaktionen | |
| und teilweise billige Provokationen sind. | |
| Der Mensch Madonna Louise Veronica Ciccone, die Mutter von sechs Kindern | |
| und Managerin ihres Imperiums, kommt in der Bremer Performance nicht vor. | |
| Warum sie Vorbild des Empowerments und der sexuellen Selbstbestimmung für | |
| so viele Frauen zu sein scheint, ist nicht deutlich herausgearbeitet. | |
| Unhinterfragt bleibt zudem das Popphänomen Madonna, die als | |
| Projektionsfläche für so vieles genutzt wird. Zu fragen, warum diese | |
| Madonna, die reine Oberfläche, die pure Präsenz, die Antizipation des | |
| Mainstreams, so erfolgreich wurde, das hätte ein spannender Theaterabend | |
| werden können. Als szenische Analyse der Wirkungsmechanismen des Pop-Stars | |
| – als Ikone. Die Arbeit wurde in Bremen anderswo geleistet. Wie Ikonen | |
| funktionieren, darüber ist überwältigend viel in der gleichnamigen | |
| Ausstellung der Kunsthalle zu erfahren – Madonna dort natürlich auch | |
| präsent. | |
| 23 Jan 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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