Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rio-Reiser-Lieder von Jan Plewka: Macht den Eisbär nicht kaputt
> Jan Plewka ist mit dem Rio-Reiser-Liederabend „Wann, wenn nicht jetzt?“
> auf Tour. Er ist nicht das Original, singt aber mit ähnlicher Hingabe.
Bild: Jan Plewka inmitten seiner Schwarz-Roten Heilsarmee Band als Rio Reiser
Von den destruktiven Impulsen, die Ton Steine Scherben auf ihr Publikum
übertrugen, wussten Festivalveranstalter schon 1970 ein Lied zu singen. Die
Band reiste wenige Monate nach ihrer Gründung in Westberlin nach Fehmarn,
rumpelte und marodierte, [1][Rio Reiser] schrie „Macht kaputt, was euch
kaputt macht“, und das Publikum fackelte die Bühne ab.
Ein halbes Jahrhundert später geht es gesitteter zu, wenn die Protestsongs
der Scherben dargeboten werden. Die Besucher des Hamburger [2][Kampnagel]
sitzen auf gepolsterten Stühlen, Glasflaschen sind verboten, die Show
beginnt Punkt halb acht. An mehr als 200 Abenden hat Jan Plewka schon Rios
Texte gesungen, etliche davon mit dem Quartett Die Schwarz-Rote Heilsarmee.
Plewka feierte mit seiner Band Selig als abgezocktes Rockvieh in den
Neunzigern Erfolge im Fahrwasser der Hamburger Schule. Später schuf er
Musiken für Filme und Theaterstücke; seit 17 Jahren ist er auf die Rolle
des Rio-Reiser-Interpreten abonniert. Nun führt er ein neues Programm auf.
„Ich versuche nicht, den Rio zu spielen“, sagt der gebürtige Hanseat vor
dem Konzert. „Ich übernehme den Charakter eines Liedes und singe es als
[3][Jan Plewka]. Ich muss die Geschichte dahinter annehmen und sie zu
meiner eigenen machen.“ Der Abend im Kulturzentrum Kampnagel beginnt
zunächst wenig eigenständig. Mit stumpfer Breitbeinigkeit rocken die fünf
„Menschenfresser“ runter. Das Schlagzeug scheppert, wohl auch wegen der
schwierigen Akustik in der Kranfertigungshalle. In den lauten Momenten
fehlt der Band die jazzige Raffinesse, die der Hendrix-geschulte
Scherben-Gitarrist R.P.S. Lanrue einst den Originalen verpasste.
## Industriellen-Bashing
„Macht kaputt, was euch kaputt macht“ enthält bei Plewka neben dem
gewohnten Großindustriellen-Bashing („Fabriken bauen, Maschinen bauen“)
auch aktuelle Referenzen. Der 49-jährige Sänger streut die Begriffe „AfD“
und „Kreuzfahrtschiffe“ ein, erklimmt die Zuschauertribüne und animiert zum
Mitsingen, aber im Publikum regt sich wenig. Ein traurig dreinschauender
Eisbär betritt die Bühne, Plewka befreit ihn von Plastikmüll.
Das neue Programm sollte morbider werden, so hatten es sich Plewka und
seine Musiker zumindest vorgenommen. Beim ersten Rio-Reiser-Zyklus sei es
ihnen um die liebevolle Seite des Künstlers gegangen, Songs wie „Junimond“
standen auf der Setlist. „Aber jetzt brennen die Wälder, die Polkappen
schmelzen. Rios Texte sind wieder aktuell geworden“, findet Plewka. „Wann,
wenn nicht jetzt?“ ist der programmatische Untertitel dieses Liederabends,
angeleitet von dem ehemaligen Schauspielhaus-Intendanten Tom Stromberg.
Je sanfter die Gitarren, desto überzeugender klingt das Konzert: „Nur dich“
gibt es mit Violine und Vibrafon; „Ich bin müde“ im Duett mit Lieven
Brunckhorst. Der langjährige Ensemblemusiker am Hamburger Schauspielhaus
spielt sein Piano mit sanftem Anschlag und entlockt ihm dennoch eine
Randy-Newman-Funkyness, die einen Kontrapunkt zu Plewkas rauem Gesang
bildet. Der seufzt: „Du bist zu arm, ich bin zu reich / Du bist zu hart,
ich bin zu weich“, und lehnt den Kopf an seinen Bandkollegen.
## Rhythmus mit Bleistiften
Nach der Pause bringt Stromberg ungeahnten Humor. Er steckt die Band in
glitzernde Spandexanzüge, drapiert sie nebeneinander an einem Pult mit
Mikrofonen. Versteckt hinter riesenhaften Masken, klopfen die fünf mit
Bleistiften den Rhythmus von „Mein Name ist Mensch“. Der „Shit-Hit“, den
Rio einst für eine Theatergruppe mit Corny Littmann komponierte, wird im
Barbershop-Style dargeboten und auch vom Publikum intoniert: „Einmal
täglich Haschisch / nasch isch.“
Vor den Zugaben wird’s wieder ernst: Auf dem Videoscreen werden einem
kontextlos Daten über den Klimawandel vor den Latz geknallt. Dann brettert
die Band noch einmal mit „Mensch“ los, diesmal mit Gitarren. „Der Planet
Erde wird uns allen gehören, und jeder wird haben, was er braucht.“
Am Ende des Abends liegen sich Sänger und Eisbär in den Armen. Jan Plewka,
dieses schmale Handtuch, das barfuß über die Bühne tobt, ist nicht Rio
Reiser. Aber er singt mit ähnlicher Hingabe. Das Publikum klatscht ihn noch
für mehrere Verbeugungsrunden heraus.
21 Nov 2019
## LINKS
[1] /Gedenktafel-fuer-Rio-Reiser/!5060873
[2] /Theaterstueck-auf-Kampnagel-in-Hamburg/!5633457
[3] /Musiktheater-auf-Kampnagel/!5026846
## AUTOREN
Jan Paersch
## TAGS
Rio Reiser
Ton Steine Scherben
Jan Plewka
Theater Bremen
Rio Reiser
Berlin-Kreuzberg
Deutsches Schauspielhaus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Comeback der Liederabende: Gesungene Lockerungsübungen
Liederabende haben Konjunktur: In Hannover besingen „Held*innen“
Gender-Identitäten, in Bremen erklingt eine Hommage an Madonna.
Ehrung für Rio Reiser: König von Kreuzberg
Kreuzberg bekommt einen Rio-Reiser-Platz. Jetzt geht es darum, die
Erinnerung an diesen anarchisch-protoqueeren Geist mit Leben zu füllen.
Rio-Reiser-Platz in Berlin-Kreuzberg: Im Hausbesetzerland
Ein Platz für Rio Reiser in Berlin-Kreuzberg, das könnte nächstes Jahr
Wirklichkeit werden. In guter Stimmung wurde darüber diskutiert.
Neue Schauspielhaus-Ära: Weltklasse, aber bitte zum Nulltarif
Hamburgs neue Schauspielhaus-Chefin Karin Beier ist die jüngste in einer
Ahnenreihe von Intendanten, die immer wieder an der ambivalenten
Erwartungshaltung der Hamburger scheiterten
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.