# taz.de -- Publikumsbesichtigung im Musiktheater: Extase im Sitzen | |
> Das Bremer Theater widmet Punk-Ikone Patti Smith einen vom Schauspiel | |
> gerahmten „Liederabend“. Und der lädt sehr dezent auch zum Tanzen ein. | |
Bild: Disco und Diskurs im Theater: ein Liederabend für Patti Smith in Bremen | |
Den Hund zum Jagen tragen oder den Punk zum Tanzen: Beides meint das | |
Gleiche, speist sich aber aus doch sehr unterschiedlichen Erfahrungswelten. | |
Und damit ist eigentlich das Wesentliche bereits gesagt über diesen | |
[1][Liederabend mit Patti Smith und „Because the Night“] am Bremer Theater. | |
Na ja, aber wahrscheinlich muss man doch noch ein kleines bisschen weiter | |
ausholen. | |
Sängerin, Dichterin, Malerin und Punk-Urahnin Patti Smith selbst ist zum | |
Beispiel gar nicht da. Das ist immer so bei den „Liederabenden“, die zu den | |
erfolgreichsten Programmpunkten im Spielplan des Bremer Stadttheaters | |
gehören. Die Idee geht so: Band und Sänger:innen geben Hits auserwählter | |
Stars (wie Leonard Cohen, [2][Madonna] oder John Lennon) zum Besten, | |
während Schauspielfragmente diese Konzerte zum Künstlerinnenporträts | |
verdichten. | |
Bei Patti Smith ist das nun gar nicht so einfach, weil sie im Gegensatz zu | |
ihren Vorgänger:innen ja gar kein Hitrepertoire mitbringt, sondern mit | |
„Because the Night“ exakt einen wirklich erfolgreichen Song anzubieten hat. | |
Außerdem ist ihre Vita schwierig, weil sie teils zur Legende verschwimmt – | |
und in anderen Teilen wieder sonderbar abgeleitet wirkt von all den Dylans, | |
Warhols oder Burroughsens, mit denen sie so abhing, [3][damals in New | |
York]. | |
## Ein Umweg, der sich lohnt | |
Gelöst hat diese Problemlage nun auch gar nicht das Bremer Theater, sondern | |
[4][Schriftstellerin Helene Hegemann]. Die hatte vergangenes Jahr ein | |
spektakulär leichtfüßiges Essay über Patti Smith geschrieben, das ihren | |
Mythos kurz referiert, sich dann aber vielmehr um persönliche Beziehungen | |
kümmert. Und diesen Text inszeniert Anne Sophie Domenz als Rahmen des | |
Konzerts. | |
Jetzt aber endlich tanzen. Einige wenige tun das schon von Anfang an: | |
heimlich im Sitzen. Die Übrigen werden ein bisschen überredet, als kurz | |
vorm Höhepunkt Theatermitarbeiterinnen durch die hinteren Reihen schleichen | |
und die Leute auf die Bühne einladen: „Haben Sie keine Angst, das ist kein | |
Mitmachtheater! Die Wahrheit ist: Wir brauchen diese Reihe hier gleich | |
leer.“ Weil gleich von hinten monologisiert wird. | |
Im Bühnenraum kann man dann auf Hockern sitzen oder zwischen | |
Schauspieler:innen auf einem Fell herumlümmeln. Na ja, und eben tanzen, | |
wenn man denn will. | |
Auch sonst herrscht hier eine sonderbare Involviertheit ins Programm. Von | |
der Bühne angesprochen wird ein langjähriges Patti-Smith-Publikum. Ob man | |
sich erinnere an die wilden Zeiten, an den „Sommer der Liebe“, an Bob Dylan | |
und so weiter. Und tatsächlich wallt daraufhin ein vielstimmiges und warm | |
kratzendes Raunen auf. Denn die meisten hier waren tatsächlich dabei, also | |
in Gedanken jedenfalls, oder zumindest waren sie '68 schon auf der Welt. | |
Und darum geht’s hier vor allem: sich zu erinnern und das für alle sichtbar | |
zum Ausdruck zu bringen. Man kennt diese Publikumsemphase sonst weniger aus | |
dem Theater, sondern eher von Folkkonzerten, oder wenn Konstantin Wecker in | |
der Stadt ist: wenn sich Mitwippen, heftiges Nicken und Lacher an den | |
richtigen Stellen zu einer Art Sitztanz verdichten, wogegen das Brutalpogo | |
zeitgenössischer Untergrundmusik als reinster Kindergarten daherkommt. | |
## Die Musik in Unruhe lassen | |
Kurz gesagt: Die Stimmung der Ü-60-Fraktion ist gut, womit wir auch bei den | |
unterschiedlichen Erfahrungswelten angekommen wären. Denn tatsächlich ist | |
die von Maartje Teussink angeleitete Musik zwar wunderschön und dem | |
Original teils gespenstisch nahe – aber Helene Hegemanns Text weit davon | |
entfernt, sich in Früher-Geschichten zu ergehen. | |
Ihr Zugang ist ihre tote Mutter, die krank war und bei der laute Musik ein | |
schlechtes Zeichen war. Erst als sie stirbt, tritt Vater Carl Hegemann auf, | |
von dem man in Theaterkreisen gehört haben wird, zu dem sie zieht und mit | |
Christoph Schlingensief die Theaterwelt aufmischt … aber das führt hier | |
alles zu weit. Jedenfalls trifft die junge Hegemann auf Patti Smith und | |
setzt sich mit deren Werk und Biographie auseinander. | |
Auf diesem Umweg findet der Liederabend dann eben auch inhaltlich zum | |
Theater, über das er unterm Strich vielleicht sogar mehr zu erzählen weiß | |
als über Rockmusik. Das ist kein Vorwurf, sondern die große Stärke dieser | |
Veranstaltung: weil die Musik für sich stehen darf. | |
12 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://theaterbremen.de/de_DE/programm/because-the-night.1324897 | |
[2] /Comeback-der-Liederabende/!5655312 | |
[3] /Legendaeres-New-Yorker-Hotel-Chelsea/!5164939 | |
[4] /Neues-Buch-von-Helene-Hegemann/!5857734 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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