# taz.de -- Sehnsucht nach dem pandemischen New York: Unterm Joch der Normopath… | |
> Ein anderer Blick auf die Covid-Pandemie: Jeremiah Moss feiert in seinem | |
> Memoir Queerness, Selbstbefreiung und die anarchische Seele New Yorks. | |
Bild: „Ruinenlust“ im Lockdown – Bikes und Motorräder eroberten sich d… | |
Es ist eines jener Bilder, die jedem im Gedächtnis haften geblieben sind, | |
der während der Pandemie nicht aus New York geflohen ist. Gruppen von | |
vorwiegend schwarzen jungen Männern auf Crossmotorrädern oder Mountainbikes | |
bemächtigten sich der leeren Straßen und Boulevards, donnerten den | |
Broadway, die Fifth Avenue oder die Stadtautobahn am Hudson hinunter, | |
ließen die Motoren heulen und hoben ebenso martialisch wie todesmutig die | |
Vorderräder an, bis die Gefährte senkrecht die Straße hinunterzufliegen | |
schienen. | |
Jeremiah Moss ist auf den ersten Blick keiner, dem man eine Affinität zu | |
dieser testosteron-geladenen Subkultur zutraut. Moss lebt als | |
Schriftsteller recht isoliert in einer kleinen Wohnung im East Village – | |
von der Bronx und Harlem, der Heimat der unter dem Hashtag #bikelife | |
firmierenden Gangs, Dutzende Meilen und kulturelle Lichtjahre entfernt. | |
Seinen Lebensunterhalt verdient Moss als Psychoanalytiker. | |
Und doch fand sich Moss an einem milden Novemberabend des Jahres 2020 mit | |
seinem Fahrrad in einer Gruppe schwarzer Bike Life Kids aus der Bronx | |
wieder. Wie im Rausch raste er mit ihnen die Sixth Avenue hinauf, | |
schlängelte sich um Autos, ignorierte Ampeln und strampelte sich in eine | |
überschäumende Euphorie. „Ich fühlte mich in diesem Schwarm lachender und | |
grölender junger Männer wie erhoben. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich | |
musste nach Luft schnappen, mich packte ein Schwindelgefühl. Einer schaute | |
zu mir und nickte, wie um zu sagen, „ich sehe dich, du bist hier“. Ich | |
nickte zurück und dachte: „So ist es also, ein Junge unter Jungs zu sein.“ | |
## Zeit aus den Fugen | |
Dass Moss, der als Mädchen groß geworden ist, in diesem Moment ein wenig | |
seine Jugend als Mann nachholte, erklärt indes nur zum Teil seine Ekstase. | |
Der Moment war auch Ausdruck einer tiefen Befreiung, die Moss im New York | |
der Pandemie erlebt hat. | |
Die Erfahrung war für Moss so profund, dass er darüber ein Buch geschrieben | |
hat. „Feral City – On Finding Liberation in Lockdown New York“ heißt das | |
Werk, dass derzeit in der Stadt sowie im ganzen Land für hitzige | |
Diskussionen sorgt. Manche finden die Mischung aus Memoir und Essay | |
pietätlos. Aus einer Katastrophe, die Millionen von Menschenleben gekostet | |
hat, eine Story der Freude und Selbstbefreiung zu stricken, das sei obszön. | |
Andere hingegen sind dankbar für die Aufarbeitung einer kollektiven | |
Erfahrung, deren soziokulturelle Tragweite und Bedeutung bislang nur wenig | |
Reflexion gewidmet wurde. | |
Für die meisten von uns haben die Monate seit dem Beginn des Jahres 2020 | |
und dem schleichenden Wiedererlangen eines Status quo ante noch immer eine | |
unwirkliche Qualität. Es lässt sich keine Kontinuität zwischen dem Erleben | |
dieser Zeit und dem Davor und Danach herstellen. Die Erfahrung steht | |
alleine, für sich, unerklärt und unerklärlich, eine „Zeit aus den Fugen“, | |
wie Moss mit den Worten Derridas die Temporalität der Pandemie beschreibt. | |
## Dieselbe Beklemmung wie zuvor | |
Eben darin lag für Moss jedoch die Freiheit der Pandemiemonate. Moss hat | |
sich in der Davorzeit stets unwohl gefühlt, wie einer, der nicht an den Ort | |
und in die Zeit gehört, in denen er lebt. Und in der Danachzeit beginnt ihn | |
wieder dieselbe Beklemmung zu beschleichen wie im Leben davor. | |
„Ich hatte mich im Jahr der Pandemie wohl in meiner Haut gefühlt. Doch | |
jetzt spüre ich, wie mich die soziale Krankheit des Kapitalismus wieder | |
befällt und von mir Besitz ergreift und meine Gedanken wieder zum Shopping, | |
zum Sporttreiben und zur Produktivität driften.“ | |
Jeremiah Moss hat sich einen Namen als Blogger gemacht, der anklagend die | |
Gentrifizierung der Stadt betrauert. Woche um Woche zog er durch sein | |
Viertel, das einstige Boheme-Quartier East Village und dokumentierte das | |
Verschwinden alteingesessener Etablissements: Kunstgalerien, Musikclubs, | |
alte Familienbetriebe, Kneipen und Cafés mit Geschichte und Patina. | |
## Die wilde, anarchisch freie Stadt | |
Der Hyperkapitalismus des 21. Jahrhunderts, so seine immer wieder | |
wiederholte These, tötet die Seele New Yorks. Dabei machte er nie einen | |
Hehl aus seiner Nostalgie nach einer Zeit, die er selbst nie erlebt hatte. | |
Moss zog ins East Village, weil er die Beat-Poeten der 50er Jahre verehrte, | |
Alan Ginsburg, [1][Jack Kerouac] und Frank O’Hara, die das Viertel zu ihrem | |
Biotop gemacht hatten. Moss stilisierte sich als ihre Statthalter in einer | |
Umgebung, die ihm immer fremder und feindlicher wurde. | |
In seinem neuen Buch hat Jeremiah Moss diese Haltung verfeinert und | |
erweitert. Er benutzt den Begriff Derridas von der Zeit, die aus den Fugen | |
geraten ist, um seine Sehnsucht zu rechtfertigen. Wie bei Derrida der Geist | |
des Marxismus als unerfüllte Sehnsucht eines nie erfüllten Versprechens | |
immer wiederkehrt, kehrt für Moss während Covid [2][die wilde, anarchisch | |
freie Stadt] wieder, die von den 50er bis in die 80er Jahre Nährboden für | |
die vielleicht wichtigsten Kunst- und Kulturströmungen des 20. Jahrhunderts | |
war. | |
## Beobachtung der „Hypernormalen“ | |
Im New York des Jahres 2020, in dem Ratten und Obdachlose sich die Straßen | |
zurückerobern, Parks von Black-Lives-Matter-Demonstranten besetzt werden | |
und der Times Square vom Touristenmagneten zur grotesken Freakshow mutiert, | |
findet Moss nun endlich die Befreiung, nach der er sich schon immer gesehnt | |
hat. | |
Doch Moss, ganz der brütende Analytiker, macht nicht dabei Halt, dieses | |
Gefühl der Befreiung zu erleben und zu beschreiben. Er möchte es verstehen. | |
Dabei gelangt er rasch bei seiner eigenen Queerness an und dem Begriff der | |
„Ruinenlust“, den er von der englischen Schriftstellerin Rose Macauley | |
entleiht. Es ist, wie er schreibt, die „erotische Aufladung des | |
Sich-Auflösenden“. Für den „queeren Körper“, selbst in Aufruhr und in | |
Auflösung, ist das Ankommen in der ruinierten Stadt ein Ankommen bei sich | |
selbst. | |
So ist Moss’ Memoir von der Stadt und der Pest vor allem auch eine Kritik | |
der normierenden Kraft des Hyperkapitalismus und seiner Unduldsamkeit | |
gegenüber der Differenz und der Andersartigkeit. In seiner Beobachtung der | |
„Hypernormalen“, hyperproduktiven Hyperkonsumenten, die während der | |
Pandemie aus der Stadt verschwunden waren, zitiert Moss den | |
Psychoanalytiker Christopher Bollas und seine Theorie der „Normopathie“. | |
## Alles wird „instagrammabel“ | |
Normopathie, schreibt Moss, ist der Prozess, in dem sich der | |
hyperkapitalistische Mensch selbst in eine vermarktbare Oberfläche | |
verwandelt. Alles wird „instagrammabel“. Subjektivität, die Wahrnehmung | |
seiner selbst und anderer als einzigartige, komplexe Wesen, hat sich der | |
normopathische Mensch aberzogen. | |
Unter dem Joch der Normopathen, die in den vergangenen 20 Jahren New York | |
kolonialisiert haben, wird offene Queerness unmöglich. Nachdem Moss während | |
Covid das Gefühl hatte, dass ihm und allen anderen Marginalisierten die | |
Stadt gehört, spürt er, wie er sich seit der Rückkehr der Hypernormalen | |
wieder in seine Rolle des grantigen, depressiven Außenseiters fügt. | |
Am Ende bleibt eine Diagnose, die sicher nicht nur für New York gilt. Die | |
Pandemie war im Rückblick eine ungenutzte Chance. Es war ein Moment, in dem | |
zu sehen und zu spüren war, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie | |
sind, dass wir ein anderes, besseres Leben führen können. Doch die Blase | |
ist allzu schnell zerplatzt. So schnell, dass wir uns nach wenigen Monaten | |
kaum mehr daran erinnern können. | |
30 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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