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# taz.de -- Geschichte der Berliner Clubkultur: Nachts herrscht die Utopie in M…
> Kaum war die Mauer weg, eigneten sich Künstler, Hausbesetzer, Galeristen
> und DJs die alte Stadtmitte von Berlin an. Diese Entwicklung dauert an.
Bild: Der Caipirinha-Geruch stieg aus dem Keller nach oben: das Elektro in der …
Im Hof liegen alte Matratzen, kaputte weiße Plastikstühle, blaue Müllsäcke,
Bretter, Autoreifen, Teppiche, Couchs, Klappstühle, Schutt, rostige Eimer.
Die wilde Müllkippe wächst, weil die Berliner Stadtreinigung im besetzten
Haus in der Mauerstraße 15 keinen Müll abholt. Einmal wächst der Hügel an
der höchsten Stelle auf beinahe zwei Meter Höhe an.
Wer am Wochenende ins WMF, den Club im Keller des alten WMF-Hauses gleich
nebenan, will, muss über die Halde. Jeden Abend staken Leute über den
Müllhaufen. Und bald stehen sie nicht nur am WMF an, sondern biegen nach
rechts ab, um ins Sabor da Favela, auf Deutsch „Geschmack des
Elendsviertels“, hinunterzusteigen. Im Volksmund heißt der Laden nur „der
Brasilianer“, weil er von zwei jungen Brasilianern betrieben wird.
Wer zum Brasilianer will, muss durch ein ovales Loch in der Rückwand des
Hauses steigen. Wer den Hof gefunden, den Müllberg überquert hat und trotz
des Hinweisschilds „Privat! Kein Zutritt für die Öffentlichkeit!“ durch d…
Mauerdurchbruch geklettert ist, hat den Übergangsritus aber erst zur Hälfte
durchlaufen. Schreckhafte Charaktere, und es gibt immer wieder welche,
wollen keinesfalls die dunkle, nur durch Teelichter beleuchtete Treppe ohne
Geländer hinunter ins Dunkle steigen.
Der Brasilianer ist nichts für klaustrophobisch Veranlagte. „Wir machten
immer Witze: Wenn es hier brennt, sterben wir alle. Es gab keinen
Fluchtweg“, sagt Raquel Eulate, die eine Weile im Haus gewohnt hat. Das
Favela verspricht ein Abenteuer, das mehr als Unterhaltung ist.
## Kein Stuhl passt zum andern
Anfangs hat das Favela nur zwei kleine Räume. Bald gibt es weitere
Séparées, in die nur ein Tisch passt. Brotkörbe aus Bast dienen als
Lampenschirme, die Wände sind gekalkt. Wo es Tapeten gibt, sind sie wegen
der Feuchtigkeit im Keller an die Wände getackert. Als Dekoration dienen
Erdnusssäcke und Rumflaschen. Der Boden ist mit Teppichresten ausgelegt.
Das Mobiliar stammt vom Sperrmüll, kein Stuhl passt zum andern.
Im September 1991 haben Ralf und Marcus den Laden aufgemacht. Sie haben
vorher in Moskau studiert, als Stipendiaten der Kommunistischen Partei
Brasiliens, heißt es. Wie sie nach Berlin kamen, weiß keiner genau. „Sie
haben mir gesagt, dass sie sich nach dem Fall der Mauer Berlin anschauen
wollten. Dann sind sie wohl geblieben, wie alle anderen auch“, sagt Raquel
Eulate.
Abgesehen von der extravaganten Szenerie, der nur wenige Orte in Berlin
Konkurrenz machen können, ist das Favela, in dem es aus Prinzip kein Bier
gibt, berühmt für seine Caipirinhas. Den brasilianischen Drink aus Cachaça,
Zucker, gestoßenem Eis und im Glas zerstampften Limetten gab es vorher
nirgends in der Stadt. Für die Gastronomen hat Caipirinha den Vorteil, dass
er gute Gewinne abwirft.
Die Herstellung ist aber relativ aufwendig, man muss Limetten schneiden und
Eis in großen Mengen verarbeiten. Im Brasilianer ist Eis anfangs
Mangelware, wie in den meisten Läden ohne Schanklizenz in Mitte, die es
sich meist bei McDonald’s im Westen besorgen. Anfangs gibt es im
Brasilianer nur einen Eiswürfel per Drink. „Sonst haben wir für die anderen
nüscht“, wird den Gästen mitgeteilt.
## „Ihr müsst die Preise verdoppeln“
Daniel Pflumm, der ein Jahr nach der Eröffnung des Favela im Erdgeschoss
der Nummer 15 seinen eigenen Laden aufmacht, hat nur ein paar Caipirinhas
im Keller getrunken. Daniel Pflumms Elektro liegt direkt über dem Favela.
„Schon beim Aufschließen vom Elektro kam einem der Geruch von Caipirinha
entgegen, da hab ich mir den ziemlich schnell abgewöhnt. Die Brasilianer
waren nett, und ich war derjenige, der ihnen gesagt hat: Was, Caipirinha
für eine Mark fünfzig? Ihr müsst die Preise verdoppeln, dann läuft der
Laden.“
Obwohl die Preise für die Caipirinhas seitdem ständig steigen, sind alle
mit den Drinks zufrieden, die extrem alkoholhaltig sind. Wer im Favela mehr
als zwei Caipirinhas trinkt, hat Mühe, die steile Treppe nach oben zu
klettern. Auf dem Müllhaufen hinter dem Haus liegen morgens oft Betrunkene,
die es nicht mehr nach Hause geschafft haben.
Bald parkt Physikstudent Marcus seinen gebrauchten metallic-auberginenroten
Mercedes vor dem Laden. „Die Kneipe der Brasilianer war eine Goldmine“,
sagt Slavko Stefanoski, der im vierten Stock des Hauses gelebt hat. „Sie
haben aber nicht viel profitiert von dem Ganzen. Was haben sie mit dem Geld
gemacht? Sie haben es wieder ausgegeben. Marcus und Ralf waren Künstler.
Was sie gemacht haben, war mit Geldverdienen verbunden, es war aber auch
eine Kunstaktion.“
Spätestens als Vogue über das Favela als heißesten Ort der Berliner Szene
und Cocktail-Geheimtipp berichtet, brummt der Laden am Wochenende. Jetzt
parken nachts auch Jaguars aus Düsseldorf vor dem Haus. Männer helfen ihren
High Heels tragenden Begleiterinnen dabei, den Müllberg zu überwinden. Das
tut der Atmosphäre keinen Abbruch, im Favela sind alle willkommen.
## Klassenlose Gesellschaft
Nachts herrscht in Mitte die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft.
Morgens sieht es anders aus. Dann nehmen die einen den Scheck der Eltern in
Empfang oder gehen zur Arbeit in Ämtern und Agenturen, während die anderen
Essen im Supermarkt klauen oder auf der Straße Möbel sammeln, um sich die
Wohnung einzurichten.
„Während die einen bis zur nächsten Party weiterschliefen, waren andere,
mit denen man nachts noch getanzt hatte, womöglich schon dabei, das Gebäude
zu kaufen, in dem die Party stattgefunden hatte“, schreibt die Künstlerin
Natascha Sadr Haghighian über die Zeit nach dem Fall der Mauer.
Thorsten Schilling, der aus der oppositionellen Kulturszene kommend 1990
zum Pressesprecher des stellvertretenden Oberbürgermeisters von Ostberlin
geworden ist, interpretiert die Entwicklung heute ähnlich: „Wir dachten,
die besetzten Häuser und die Clubs sind Orte der Wahrheit. Das war das
Pathos der Zeit. Der Kapitalismus hat sich zwar noch nicht so sichtbar
durchgesetzt, aber die Kapitalisten waren genauso schnell wie die Besetzer
und die Künstler. Durch die resultierende Gentrifizierung wird das soziale
Gefüge Berlins brutaler. Auf der anderen Seite ist das aber auch das Gute
an so einer Stadt: Du lebst am selben Ort, hast aber nicht das Gefühl, dass
du am selben Ort lebst, weil es hier viele Brüche gab und einen viel
radikaleren Austausch von Leuten als in anderen Städten.“
Nach dem Fall der Mauer wurde Mitte aus einem langen Schlaf aufgeweckt. Die
Clubs, Bars und Galerien, die hier entstanden sind, haben das Bild Berlins
als wilde, kreative und produktive Stadt geprägt. Möglich war das, weil es
Platz gab. Passiert ist es, weil es genügend Leute gab, die Zeit, Kraft und
Ideen investiert haben. Heute sind die Spielräume geschrumpft. Um Zinsen zu
tilgen und Investoren nach Berlin zu holen, hat der Senat seit der
Wiedervereinigung im Bezirk Mitte 85 Prozent der städtischen Liegenschaften
verkauft, lässt man Straßenland, Parks und öffentliche Einrichtungen außen
vor.
## Heute steht hier ein Bürogebäude
Im Sommer 1995 wird das Haus in der Mauerstraße 15 vom Bagger eines
Investors demoliert. Die Behörden wissen Bescheid, schreiten aber nicht
ein. Am nächsten Tag wäre das Gebäude in die Liste der denkmalgeschützten
Häuser aufgenommen worden. Das groß angekündigte Botschaftszentrum, dem das
Haus Nr. 15 mit der barocken Bausubstanz weichen muss, wird nie gebaut.
Heute steht hier ein Bürogebäude. Seine Ecke ist dynamisch gerundet, als
habe das Haus geheime Potenziale zur Fortbewegung. Die Metapher des Schiffs
ist in den letzten Jahrzehnten gern von Architekten bemüht worden, wohl um
Globalität, Dynamik und Mobilität zu kommunizieren. Wenn man sich die
Geschichte von Berlin-Mitte ansieht, kann man zum Schluss kommen, dass sich
das Maß der Experimentierfreude einer Gesellschaft umgekehrt proportional
zum dynamischen Aussehen ihrer Bürohäuser verhält.
„Wir sind damals nur für eine Weile geduldet gewesen, um ein bisschen Farbe
in die triste Gegend zu bringen. Wir haben gespielt, Mittelstandskinder im
grauen Stadtzentrum“, sagt Slavko Stefanoski. Ein paar Jahre nach dem
Abriss des Hauses in der Mauerstraße 15 wird er nach Mazedonien
abgeschoben. „Langsam wurde aus Berlin Hauptstadt. Es gab nicht mehr so
viel Platz für freischaffende Künstler. Ich war kein Besetzer mehr“, sagt
er, als sei das eine logische Erklärung für das Ende seines Aufenthalts in
der Berliner Republik. „Es gab keinen Grund mehr, mich zu behalten.“
24 May 2013
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
90er Jahre
Clubkultur
Wende
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Techno
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