# taz.de -- Hippe Neoreaktionäre in New York City: Jung, urban, antiwoke und r… | |
> Die USA diskutieren über die hippe Subkultur der Dimes-Square-Szene von | |
> Manhattan. Sie pflegt Verbindung zu reaktionären politischen Bewegungen. | |
Bild: Der Autor Cassidy Grady liegt bei Proben zum Stück „Dimes Square“, u… | |
Auf den ersten Blick unterscheidet das Dreieck am Rand von Chinatown nicht | |
viel von Dutzenden anderer New Yorker Nachbarschaften in der Frühphase | |
ihrer Gentrifizierung. Zwischen schmuddeligen Bodegas und chinesischen | |
Wäschereien haben sich ein paar vegetarische Restaurants, eine In-Kneipe | |
und ein Skatercafé eingenistet. | |
Die Bürgersteige sind an einem schönen Frühsommertag voller durchgestylter | |
Frühzwanziger. Die Männer tragen bevorzugt Camouflage, die Frauen | |
engsitzende Tops der Kultmarke Brandy Melville. | |
Man meint die Szene zu kennen. Vor zehn Jahren siedelte der Hipster-Cluster | |
nur wenige Blocks nördlich von hier an der Lower East Side, bevor die Szene | |
immer weiter nach Brooklyn hineindrang. Jetzt ist die jüngste Welle der | |
Coolness zurück nach Manhattan geschwappt in eine kleine, bis dato | |
vergessene Enklave unter der Manhattan Bridge. | |
Das allein wäre in den Lifestyle-Foren der Stadt bestenfalls eine | |
Randnotiz gewesen. Die Gegend zwischen Canal, Allen und Division Street | |
beschäftigt jedoch nun schon seit Monaten Trendbeobachter bei so | |
unterschiedlichen Medien wie Vanity Fair, der New York Times und dem | |
Londoner Guardian. Der Grund dafür: Hier hat sich eine Subkultur | |
eingenistet, die als symptomatisch für einen neuen Zeitgeist gelesen wird. | |
Begonnen hat alles damit, dass eine Gruppe renitenter Jungintellektueller | |
während der frühen Tage von Covid auf der Suche nach einer Ecke von New | |
York war, in der man es mit den Quarantänevorschriften nicht so genau nahm. | |
Die New Yorker Cops scherten sich nicht sonderlich um den entlegenen Zipfel | |
in der Südostecke von Manhattan. Die Kneipe Clandestino und das Restaurant | |
Dimes, das der Gegend ihren Spitznamen „Dimes Square“ bescherte, blieben | |
offen, und in den Wohnungen gingen die Partys endlos weiter. | |
## Trotz gegen Covidmaßnahmen | |
Schon in diesem Trotz gegen die strengen Covidmaßnahmen im liberalen New | |
York brach sich unter den Gen-Z-Intellektuellen ein innerer Widerstand | |
gegen die politische und kulturelle Dominanz der „woken“ Linken im urbanen | |
Amerika Bahn. Die Migration weg von Brooklyn, der Hauptstadt des liberalen | |
Mainstreams und des Zentrums der Anhängerschaft von Bernie Sanders, schien | |
diesen Impuls zu unterstreichen. | |
All das bestätigte sich, als die Szene während Covid nur wenig zu tun | |
hatte, außer auf den Sofas am Dimes Square herumzulümmeln, im Clandestino | |
zu trinken, zu diskutieren und zu schreiben. Daraus entstanden das | |
Underground-Theaterstück „Dimes Square“, aber auch der Podcast „Red Scar… | |
und die Zeitung Drunken Canal, die es ausschließlich in analoger Form gibt. | |
Vieles in den beiden Publikationen geht um Lifestyle, Mode, Musik und | |
Literatur. Die beiden Hostessen von „Red Scare“, Anna Khachiyan und Dasha | |
Nekrasova, die mittlerweile von einer hippen Modelling-Agentur vertreten | |
werden, können sich beispielsweise ausgiebig über die Vorzüge von Sex unter | |
dem Einfluss von Ketamin unterhalten. | |
Sie können jedoch ebenso leidenschaftlich Camille Paglia [1][und Slavoj | |
Žižek] zitieren und über „leftist dirtbags“ hetzen sowie über die Art u… | |
Weise, wie diese das Label „weiße Suprematie“ als universellen | |
Totschlagknüppel verwenden. „Ich kann den Bürgersteig entlanggehen und | |
werde als Rassist beschimpft. Du hast keine Chance.“ | |
## Unterstützung von Peter Thiel | |
Spätestens als vor einem knappen Jahr der Internetmilliardär Peter Thiel | |
bekannt gab, dass er den „Red Scare“-Podcast finanziert, wurde jedoch | |
deutlich, dass es sich bei dem Dimes-Square-Phänomen um mehr handelt als | |
nur eine lokale Subkultur. Thiel macht seit Jahren aus seinen Sympathien | |
für Trump und Ron DeSantis keinen Hehl. Bei den Zwischenwahlen im Winter | |
2022 pumpte er viel Geld in die Wahlkämpfe von Trump-nahen Kandidaten wie | |
dem Senator J. D. Vance aus Ohio oder Blake Masters aus Arizona. | |
Ein weiterer Protegé von Thiel ist der Blogger und [2][Buchautor Curtis | |
Yarvin,] den das linke Magazin Jacobin als den „Hausphilosophen“ der | |
Bewegung bezeichnet, die Thiel gerade aufzubauen versucht. Eine „Bewegung“, | |
zu der „Red Scare“ und der Dimes Square hervorragend passen. Wie das | |
Netzkultur-Magazin Dazed and Confused schrieb: „Der Dimes Square ist | |
synonym mit der postliberalen Anti-Wokeness-Bewegung – einer heterodoxen | |
Mischung aus Neoreaktionären und Dissidenten.“ | |
Die sogenannte Bewegung unterscheidet sich deutlich von den Vorstellungen, | |
die man sich gemeinhin vom amerikanischen Konservativismus macht. Die | |
Protagonisten sind weder gesättigte ältere Herren aus dem Bible Belt, die | |
ihr Vermögen vor einem übergriffigen Staat schützen möchten, noch sind es | |
zornige Angehörige der Arbeiterschicht im Rust Belt, denen man eingeredet | |
hat, dass Immigranten und Minderheiten für ihre wirtschaftliche Misere | |
verantwortlich sind. | |
Stattdessen ist dieser Teil der neuen Rechten jung, urban und hoch | |
gebildet. Einige von ihnen haben noch bis zur Wahl im Jahr 2016 den | |
selbsternannten Sozialisten Bernie Sanders unterstützt, um sich dann „im | |
Fiebertraum der Trump-Jahre einem gewissen Nihilismus hinzugeben“, wie | |
Dazed and Confused schreibt. | |
Für viele von ihnen ist das neoreaktionäre Gehabe eine provokative Pose, | |
eine Art weltanschaulicher Modetrend, um seinem Unbehagen mit dem | |
linksliberalen Mainstream Ausdruck zu verleihen. Für Ideologen wie Yarvin, | |
der sich zu seinem Autoritarismus und seinen reaktionären Überzeugungen | |
bekennt, ist es jedoch deutlich mehr. | |
## Die Leute aufwecken | |
Yarvin, der selbst aus dem Silicon-Valley-Umfeld stammt und damit prahlt, | |
gemeinsam mit Peter Thiel die Wahl von 2016 im Fernsehen gesehen zu haben, | |
hat sich eine beängstigende neoautoritäre Philosophie zusammengebastelt. | |
Seiner Meinung nach hat die amerikanische Demokratie ausgedient und | |
brauche, in der Tech-Sprache bleibend, einen „harten Neustart“. Seine | |
Grundprämisse ist, „dass das liberale Narrativ der amerikanischen | |
Geschichte als unaufhaltsamer Marsch in Richtung Fortschritt fundamental | |
fehlgeleitet ist. Es ist mein Job, die Leute aus ihrer Truman-Show | |
aufzuwecken.“ | |
Die demokratischen Institutionen in Washington, glaubt Yarvin, seien so | |
offenkundig dysfunktional, dass sie ausgetauscht werden müssten. An ihrer | |
Stelle möchte Yarvin eine Art CEO-Monarchen mit absoluter Macht sehen. | |
Dieser oberste Manager werde von einer Art Aufsichtsrat der mächtigsten | |
Leute aus der amerikanischen Wirtschaft gewählt und habe nur ihnen | |
gegenüber Rechenschaft abzulegen. | |
Dieser Neustart ist für Yarvin keine Science-Fiction. In seinen Schriften | |
hat er einen genauen Plan für einen autoritären Take-over der USA | |
skizziert. Ein neuer CEO/Monarch würde sich zunächst, wie Trump, | |
demokratisch zum Präsidenten wählen lassen, allerdings mit der | |
unverhohlenen Agenda, die maroden demokratischen Institutionen | |
abzuschaffen. Die allgemeine Desillusionierung der Bevölkerung über die | |
amerikanische Demokratie, glaubt er, würde diesem Mann oder dieser Frau | |
einen überlegenen Wahlsieg bescheren. | |
Kaum im Amt, würde der neue Herrscher alle Regierungsbürokraten entlassen. | |
Die Gerichte würde er einfach ignorieren. Und den Kongress würde er | |
mithilfe einer App durchgehend mit Loyalisten besetzen. Die | |
Institutionen der „Kathedrale“, wie er die derzeitigen liberalen | |
Machtzentren nennt, also Eliteuniversitäten und konventionelle Medien, | |
würden ebenfalls am ersten Tag ausgeschaltet. | |
Kandidaten wie J. D. Vance und Blake Masters schmeichelt dieser Plan, sie | |
sehen sich jetzt schon in der Rolle dieses Neoabsolutisten, Peter Thiel | |
vermutlich als Vorsitzenden des dazu gehörigen Aufsichtsrats. Und so | |
zitieren sie gerne offen Yarvin und zeigen sich mit ihm. Verbindungen zu | |
Trump sind zwar nicht direkt bekannt, dessen wichtigster Herausforderer, | |
Ron DeSantis, hat sich jedoch mehrfach bewundernd über Yarvin ausgelassen. | |
## Devote Anhängerschaft | |
In der coolen, neoreaktionären Dimes-Square-Szene hat Yarvin ebenfalls eine | |
devote Anhängerschaft. Die Jahrestreffen seines Onlinenetzwerks Urbit | |
finden regelmäßig in der Gegend rund um den Dimes Square statt. | |
Ob der Rechtsruck der gebildeten urbanen Elite mehr ist als nur ein | |
vorübergehender Trend, bleibt indes abzuwarten. Ob sich Kandidaten wie | |
Vance, mit dem ideologischen Rüstzeug von Yarvin sowie mit „Thielbucks“ | |
bewaffnet, durchsetzen können, ebenso. Das linksliberale Establishment, die | |
„Kathedrale“, tut jedoch sicher gut daran, aus seiner Bräsigkeit | |
aufzuwachen und sich zu überlegen, warum es seine Zugkraft für kluge, junge | |
Menschen zu verlieren beginnt. | |
25 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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