# taz.de -- Philosoph West tritt bei US-Wahl an: Der berühmte unbekannte Kandi… | |
> Cornel West ist einer der prominentesten lebenden Philosophen der USA. | |
> Dort wissen nur wenige, dass er zur Wahl für das Präsidentenamt steht. | |
Bild: Der Philosoph Cornel West vertritt einen „prophetischen Pragmatismus“ | |
Cornel West hatte offensichtliches Vergnügen an seinem Gerichtstermin in | |
Pittsburgh am vergangenen Montag. Bei seinem Plädoyer dafür, im Swing State | |
Pennsylvania zur [1][Präsidentschaftswahl] zugelassen zu werden, fühlte | |
sich der Philosoph und Theologe ganz in seinem Element. | |
In seiner charakteristischen Mischung aus Vorlesung und Predigt ließ er das | |
Gericht wissen, es gehe hier darum, „den moralischen und spirituellen | |
Verfall Amerikas“ aufzuhalten. Es sei zentral für das Überleben der | |
US-amerikanischen Demokratie, sagte er, dass die Öffentlichkeit Zugang zu | |
anderen Stimmen bekomme, zu Stimmen wie der seinen. | |
Das Plädoyer dafür, im 16. von 50 Staaten seinen Namen auf den Wahlzettel | |
für den 5. November gedruckt zu bekommen, war eine Variante der Rede, die | |
West hält, seit er Mitte des Jahres 2023 seinen Hut in den Ring des Kampfes | |
um die Präsidentschaft geworfen hat. Der New Yorker, einst als der | |
wichtigste schwarze Intellektuelle des Landes gefeiert, macht sich keine | |
Illusionen darüber, dass er ins Weiße Haus einziehen kann. In nationalen | |
Umfragen liegen seine Werte um die 1,5 Prozent. In den meisten Teilen des | |
Landes weiß der durchschnittliche Wähler überhaupt nicht, dass er zur Wahl | |
steht. | |
## Nützlich für [2][Donald Trump] | |
Unter denjenigen, die es wissen, wächst derweil der Druck auf West, sich | |
zurückzuziehen. Je länger West im Rennen bleibt, so heißt es vor allem im | |
demokratischen Lager, desto mehr nützt er Donald Trump. In einer Wahl, die | |
durch den Bruchteil eines Prozentpunkts entschieden werden könnte, sind die | |
linksprogressiven Stimmen, die West von der demokratischen Partei abzieht, | |
ein potenziell katastrophaler Verlust. | |
Das wissen auch die Republikaner, Donald Trump hat deshalb bereits bekannt, | |
Cornel West sehr zu mögen und der republikanischen Partei zugeneigte | |
Wahlkampforganisationen unterstützen West bei seinen gerichtlichen | |
Gefechten darum, auf die Wahlzettel zu kommen. | |
Doch das alles ficht West nicht an. Wenn er etwa darauf angesprochen wird, | |
dass er sich von republikanischen Politaktivisten unterstützen lässt, | |
verweist er darauf, dass die Politik insgesamt ein „Gangster“-System sei | |
und dass man in diesem Feld eben mit „Gangster“-Methoden arbeiten müsse – | |
ein typisches Zitat schwarzen Straßenjargons, mit dem er auch gern seine | |
akademische Arbeit spickt. | |
Dabei trifft er keine grundsätzlichen Unterscheidungen zwischen den | |
Demokraten und den Republikanern, auch wenn ihm durchaus die Gefahren des | |
„Neofaschisten“ Trump – wie er seinen Kontrahenten gern nennt – klar | |
bewusst sind. Dennoch gehört für West das gesamte Zweiparteiensystem einem | |
neoliberalen, militaristischen und rassistischen Apparat an, dem gegenüber | |
er sich als einsamer Rufer im Wald positionieren möchte. Die Wahl für das | |
„geringere Übel“ hält er für eines der Grundprobleme der maroden | |
amerikanischen Politik. | |
## Einseitige Liebe zu Obama | |
Ganz so zynisch war West gegenüber der institutionellen US-Politik nicht | |
immer. Als im Jahr 2008 Barack Obama kandidierte, trat West begeistert für | |
ihn bei Dutzenden von Wahlkampfveranstaltungen auf. Doch wie sich | |
herausstellte, war die Liebe einseitig. Wie viele schwarze Bürgerrechtler | |
und Intellektuelle sah West in Obama jemanden, der dieser nicht war. Obama | |
hatte niemals vor, „schwarze“ Politik zu machen. | |
Forderungen wie die von West nach radikaler sozialer Gerechtigkeit, nach | |
Reparationen für die Sklaverei, einem Ende der Masseninhaftierung für | |
Afroamerikaner oder der offensiven Bekämpfung von Armut, waren Obama zu | |
extrem. Das sagte Obama West dann auch in mehreren persönlichen Gesprächen. | |
Und um sich klar von West zu distanzieren, verweigerte er ihm eine | |
Einladung zu seiner Amtseinführung. Ein Affront, den West, wie viele | |
behaupten, nie verwunden hat. | |
West entwickelte sich zu einem der schärfsten Kritiker Obamas, insbesondere | |
dessen Drohnenkriegs in Pakistan und seiner Nähe zur Wall Street. Im | |
Wahlkampf 2016 unterstützte er Bernie Sanders. Die Art und Weise, wie | |
dieser dann vom demokratischen Partei-Establishment marginalisiert wurde, | |
zementierte jedoch endgültig seine Desillusionierung von der | |
institutionellen Politik. | |
## In die Irrelevanz manövriert | |
Nun gibt es nicht wenige, die behaupteten, dass West sich mit seiner | |
harschen Systemkritik und seiner persönlichen Fehde mit Obama in die | |
Irrelevanz manövriert habe. Sein Theologenkollege und Konkurrent auf dem | |
schmalen Feld der öffentlichen schwarzen Intellektuellen, Michael Eric | |
Dyson, bezeichnete ihn als eitlen Clown und bedauerte seinen | |
intellektuellen Abstieg. | |
West selbst erwidert darauf, dass er sich als einer der wenigen überhaupt | |
noch traue, die sozialen und politischen Realitäten in den USA offen zu | |
benennen. Seine Kritiker, wie Dyson, bezeichnet er als „gekauft“. Dem | |
neuesten Emporkömmling in der Riege schwarzer Intellektueller, | |
[3][Ta-Nehisi Coates], wirft er vor, bei seiner Gesellschaftsanalyse die | |
materielle Ungerechtigkeit zu ignorieren und sich somit zum Salonlöwen der | |
liberalen weißen Eliten zu machen. | |
Seine Kandidatur rechtfertigt West nicht zuletzt mit seiner | |
selbstgebastelten Philosophie des „prophetischen Pragmatismus“, die er nun | |
schon vor mehr als 30 Jahren artikuliert hat. Man könnte sie als Bricolage | |
bezeichnen zwischen Elementen afroamerikanischer Theologie, der | |
philosophischen Tradition des amerikanischen Pragmatismus, einer Prise | |
Marxismus und dessen, was West als „Tschechowschen Existenzialismus“ | |
bezeichnet, eines Existenzialismus, der sich zwar des allgegenwärtigen | |
Leidens im Diesseits bewusst ist, aber keinem Sartre’schen Nihilismus | |
verfällt. | |
## Direkte Fortsetzung seiner philosophischen Arbeit | |
Aus der schwarzen Theologie bezieht der Enkel eines Baptistenpredigers | |
quasi eine Verpflichtung anzuklagen und die Rolle des Propheten zu spielen, | |
der die Wahrheit verkündet, auch wenn sie in seiner Zeit niemand hören | |
möchte. In diesem Zusammenhang mag er seine Kandidatur sehen, die er | |
wiederum als direkte Fortsetzung seiner philosophischen Arbeit sieht. In | |
der Tradition von Ralph Waldo Emerson, William James und John Dewey | |
konstituiert sich Wahrheit schließlich allein durch die Praxis. An die | |
Stelle transzendentaler Letztbegründungen tritt der Nutzwert. Nur, was | |
funktioniert, ist wahr. | |
Aus dieser Position hat West stets seine Rolle des „public intellectual“ | |
hergeleitet. Allein Debatten im Elfenbeinturm voranzutreiben, hat ihn nie | |
interessiert. Er wollte sich stets einmischen. So machte er sich in der | |
breiten Öffentlichkeit schon im Jahr 1993 mit dem Manifest „Race Matters“ | |
einen Namen, in dem er als Reaktion auf die Rassenunruhen von Los Angeles | |
mit klaren, harten Worten den Zustand der Rassenbeziehungen in Amerika | |
beschrieb. Es war ein Black-Lives-Matter-Augenblick, lange bevor es diesen | |
Begriff gab. | |
All dem unterliegt Wests Selbstverständnis als „Bluesman“, wie er sich | |
selbst immer wieder bezeichnet. B. B. King und John Coltrane stehen für ihn | |
auf derselben Ebene wie die großen Dichter und Denker. Von ihnen, aber auch | |
von James Baldwin und Ralph Ellison, lernt er, wie man mit „400 Jahren | |
Trauma und Unterdrückung“ lebt, ohne bitter, hoffnungslos und hasserfüllt | |
zu werden. | |
## Dietrich Bonhoeffer als Vorbild | |
Die Blueshaltung, die dazu befähigt, inmitten von Leid und Schmerz Würde | |
und Haltung zu bewahren, ist es auch, die es West erlaubt, weiterhin an | |
Amerika zu glauben. „Ist es möglich, dass Demokratie eine Art sein kann, in | |
der Welt zu sein, nicht nur eine Regierungsform, die von den Interessen des | |
Geldes bestimmt wird?“, schrieb er bereits vor 20 Jahren. „Haben wir die | |
Grenzen der amerikanischen Religion unbeschränkter Möglichkeiten erreicht?“ | |
West sagt, er habe den Glauben nicht verloren, aber es sei ein hart | |
errungener Glaube, so wie der Glaube Dietrich Bonhoeffers, dessen Lehrstuhl | |
er am Union Theological Seminary in New York innehält. | |
Das Versprechen von Amerika ist für West noch immer eine Möglichkeit, aber | |
nur, wenn das Land schonungslos ehrlich zu sich selbst ist. Und dafür mag | |
er ein Garant sein oder wenigstens ein Werkzeug. Seine Kritiker nennen das | |
überheblich oder eitel. Für West ist es praktizierte Philosophie und | |
dringende Notwendigkeit. | |
19 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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