| # taz.de -- Neues Buch von Helene Hegemann: Die Natur kriegt die Figuren klein | |
| > Der Sound von Helene Hegemann klingt in Nuancen anders als bisher: nach | |
| > einer Autorin, die sich vom Getöse ihrer frühen Karriere emanzipiert hat. | |
| Bild: Die Vögel, das Wasser, die verletzlichen Körper tun den Geschichten gut… | |
| Vieles beginnt im Wasser in Helene Hegemanns neuem Kurzgeschichtenband | |
| „Schlachtensee“. Und vieles wird im Wasser enden. In einem See in | |
| Brandenburg, am Nil, am Strand von Nordfrankreich. Oder in der Wolga, aus | |
| der eine junge Frau steigt und in Folge eine schmerzhafte Augenentzündung | |
| entwickelt, ein Leiden, als schwemme ihr Körper den ganzen Schmerz einer | |
| seltsamen Dreiecksaffäre nach draußen. | |
| Immer wieder ist es Wasser, das Menschen reinigt, zu temporär glücklicheren | |
| Versionen ihrer selbst tauft, verletzt oder zermalmt. Manchmal ist Wasser | |
| auch einfach Kulisse; nur kein Schlachtensee weit und breit. Ausgerechnet | |
| [1][der See im Süden von Berlin] kommt nicht vor in den 15 Geschichten des | |
| Bandes. | |
| Helene Hegemann, 30 Jahre alt, sitzt in einem leeren französischen | |
| Restaurant in ihrer Heimatstadt und hat eine einfache Erklärung: Ein | |
| Großteil des Buchs sei eben am Schlachtensee entstanden, wo sie damals | |
| gewohnt habe. Eigentlich sollte der Band aber ganz anders heißen. Als Titel | |
| hatte sie zwei blaue Haken vorgesehen, das Symbol für die Lesebestätigung | |
| auf Whatsapp. | |
| Die Häkchen haben es nun immerhin aufs Cover geschafft. Vielleicht | |
| praktischer so: Suchmaschinenfreundlich ist so ein Titel ja nicht. „Ich | |
| hätte es ganz gut gefunden, wenn der Titel schwer googelbar gewesen wäre“, | |
| sagt Hegemann, „weil er sich damit der Zugänglichkeit entzogen hätte und | |
| der Anforderung, möglichst schnell im Internet wiedergefunden zu werden.“ | |
| Wer sehr dringend möchte, kann so einen Wunsch als Kommentar zu Helene | |
| Hegemanns bisheriger Karriere lesen. Ihre Geschichte ist sattsam bekannt: | |
| Hegemann, Tochter des Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann und der früh | |
| verstorbenen Bühnenmalerin Brigitte Isemeyer, wurde 2010 mit ihrem Roman | |
| „Axolotl Roadkill“ berühmt, als literarische Sensation, an der sich die | |
| Welt erst blitzschnell festgeliebt und dann festgehasst hat – weil sich | |
| Hegemann für ihre Story über eine minderjährige Künstlertochter auf | |
| Selbstzerstörungskurs beim Roman „Strobo“ des Bloggers Airen bedient hatte. | |
| Die kurze Hoffnung, hier würde eine junge Frau ganz authentisch aus ihrem | |
| verkorksten Leben berichten, war hin. Plötzlich galt das Wunderkind als | |
| PR-Wunder aus der Berliner Kulturschickeria. | |
| ## Ostentative Krassheit | |
| Auf die Aufregung um „Axolotl Roadkill“ folgte der Roman „Jage zwei Tiger… | |
| [2][das Drittwerk „Bungalow“,] kürzlich ein Essay über Patti Smith und | |
| Christoph Schlingensief in der Reihe „KiWi Musikbibliothek“. Lange schien | |
| das Feuilleton Hegemann stellen, überführen, auf den persönlichen Gehalt | |
| ihrer Fiktionen abklopfen zu wollen. Die abgeklärt klingenden Drogen- und | |
| Sexszenen in ihren Büchern, die ostentative Krassheit ihrer Sprache | |
| verleiteten viele dazu, möglichst krass mit ihr umzuspringen. | |
| „Ich selbst bin natürlich alles andere als abgeklärt“, sagt Hegemann. Dann | |
| tut sie, was sie oft tut, in diesem Restaurantgespräch wie auch sonst: sich | |
| fragend einer Antwort nähern, nach der man eigentlich mehr Fragen hat als | |
| vorher. „Impliziert Abgeklärtheit denn etwas Negatives? Zynismus | |
| vielleicht, den ich immer versuche zu vermeiden.“ | |
| Als habe sie nun wirklich jede Lust daran verloren, von denkfaulen Lesern | |
| und Kritikern mit ihren Romanfiguren verwechselt zu werden, kokettiert | |
| Hegemann in „Schlachtensee“ noch nicht mal mehr mit vermeintlicher | |
| Authentizität. Das Personal wechselt konstant in den 15 Kurzgeschichten des | |
| Bandes, wenn auch manche Namen und Symbole immer wieder auftauchen. | |
| ## Pfauen, Geier, Blässhühner | |
| Von Ägypten bis Kalifornien geht die Reise, und ob der sehr speziellen | |
| Bilder, die Hegemann von allen Orten zeichnet, will man dann doch wissen, | |
| ob sie dort war, ob das alles also sehr schöne Studien oder sehr schöne | |
| Projektionen sind. „Im Hildesheim der Zukunft war ich nicht“, sagt | |
| Hegemann, wie sie vieles sagt: schnell und deutlich, ziemlich trocken, aber | |
| nicht unfreundlich, „in Russland auch nie, obwohl ich immer mal hinwollte. | |
| Das merkt man wahrscheinlich.“ | |
| Neben dem Wasser tauchen in fast allen Geschichten Vögel auf: mal ein Pfau, | |
| mal ein Geier oder ein Blässhuhn. Freie, zerbrechliche Geschöpfe, die oft | |
| entweder Blitzableiter für die kalte Wut der Figuren sind oder so liebevoll | |
| betrachtet werden, als seien sie ihre letzte Verbindung zum Natürlichen, | |
| vermeintlich Reinen und Unschuldigen. „Die Natur in Kontrast zu diesen | |
| zynischen, abgeklärten Leuten zu stellen, die kaum noch in Verbindung zu | |
| ihren eigenen Impulsen stehen, hat großen Spaß gemacht“, sagt Hegemann. | |
| Die Natur ist es meist, die ihre Figuren am Ende kleinkriegt – oder es sind | |
| deren Körper, als Teil dieser Natur, die krank werden, ungeplant und | |
| überaus unpraktisch reagieren. „Als Reaktion auf die unberechenbaren | |
| seelischen Zustände kommt bei den Figuren ein unbezwingbares, ganz | |
| archaisches Körpergefühl auf“, sagt Hegemann. „Das ist eine Art | |
| psychosomatische Metapher: der Aufstand der Körper in einer | |
| durchautomatisierten Welt.“ | |
| ## Mit der Hand schreiben | |
| Dass die Welt absolut kalkulierbar und geordnet ist, führe auf der anderen | |
| Seite zu einem immer größeren Chaos. Ihr Schreibprozess lief umgekehrt. | |
| Hegemann hatte sich vorgenommen, zwei Jahre mit der Hand alles | |
| aufzuschreiben, was ihr so „durch die Birne rauscht“. So ineffizient wie | |
| möglich zu sein. | |
| „Es gab keine Bedingungen, außer, dass ich nicht gleich lesen durfte, was | |
| ich geschrieben habe, sondern erst ein paar Monate später“, sagt Hegemann. | |
| „Und kein Computer, nur mit der Hand. Ich wollte konsequent sämtliche | |
| Anforderungen an moderne Menschen unterlaufen. Das hätte mit einem Roman | |
| nicht geklappt.“ | |
| Als habe Hegemann dabei tiefer in sich hineingelauscht, klingt ihr Sound in | |
| Nuancen anders als bisher: nach einer Autorin, die sich vom Getöse ihrer | |
| frühen Karriere endgültig emanzipiert. Wie gehabt leben die Erzählungen von | |
| kleinen und großen Schockern (classic Hegemann: Träume, in denen Schokolade | |
| aus Muskelfleisch verkauft wird) und von ihrer Eigenheit, mitten im Satz | |
| eine Ausfahrt zu nehmen, die niemand erwartet hätte. | |
| ## Friedhof der Plot-Twists | |
| Hier stellt Maria, eine ihrer weiblichen Figuren, ihren Stalker als | |
| persönlichen Bediensteten an; da hat die kleine Schwester von Minute, einem | |
| jungen Mann in der ostdeutschen Provinz, mitten in der Nacht eine | |
| existenzielle Frage an ihren betrunkenen Bruder: „Was ist eine | |
| Städtepartnerschaft?“ Helene Hegemann weiß recht offensichtlich, dass sie | |
| so was hervorragend kann. | |
| Am besten aber sind die Geschichten, wenn nicht alle Fährten ins Leere | |
| streben, hin zu Hegemanns großem, wunderbarem Friedhof der Plot-Twists und | |
| Textideen, sondern sich verdichten: zu fiebertraumhaften Sequenzen, in | |
| denen gerade absurde Bilder sehr menschliche Regungen perfekt erklären. In | |
| der Story „You have killed me and there is no point saying this again, but | |
| I forgive you, I forgive you“ sieht, träumt und wittert Minute überall | |
| Wildschweine, die Schutz- und Symboltiere seiner unmöglichen Liebe zu einem | |
| Mann. | |
| „Das ist die einzige konsequent romantische Geschichte, in der es um | |
| Verliebtheit geht und das auch ausgesprochen wird“, sagt Hegemann. „Damit | |
| der Ausgleich stimmt, brauchte ich offenbar komplett entgegengesetztes | |
| Personal, die Romantik konnte nur in diesem maximal roughen | |
| Männerzusammenhang in der Nähe von Schnellroda stattfinden.“ Sie sagt, sie | |
| habe keine Angst vor Pathos, vor Kitsch aber schon, weil der ein großes | |
| Gefühl als Verkaufsargument missbrauche – und es dadurch entwerte. „Das ist | |
| aber natürlich auch ein bisschen schwach: den Kitsch durch die Umstände | |
| abmildern.“ Wie eben im Falle der harten Männerliebegeschichte. | |
| ## Ein zarter Moment | |
| Bislang hat man ihren Texten tatsächlich vorwerfen können, sich im | |
| Bestreben, Kitsch zu vermeiden, in ihren schwächsten Momenten selbst zu | |
| neutralisieren – durch den Überfluss an möglichst Sperrigem. Die Vögel, das | |
| Meer und die verletzlichen Körper tun den Geschichten gut. Sie bringen das | |
| Leben, das es als Abgleich zur Kälte der von Hegemann konstruierten Welt | |
| braucht, um wirklich gerührt von ihren Figuren zu sein. | |
| Zum Beispiel, wenn eine Skifahrerin an die beste Sache denkt, die sie je | |
| gegessen hat: Vanillejoghurt mit zwei zerbröselten Zungentattoos, die ihr | |
| Boyfriend und sie sich im Wald an den Gaumen geklebt haben. Auf einem | |
| Sticker ein Lamm, auf dem anderen ein Gespenst. Es wäre ein lieber, zarter | |
| Moment – würde die Skifahrerin nicht unter einer Schneedecke liegen, mit | |
| einem Oberschenkelknochen, der senkrecht aus dem Schneeanzug schaut. | |
| 11 Jun 2022 | |
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| Julia Lorenz | |
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