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# taz.de -- Buch von Helene Hegemann: Endlich sicher sein
> Was, wenn ein Kind sich vor dem Menschen schützen muss, der es beschützen
> sollte? Davon handelt Hegemanns Sozialdrama „Bungalow“.
Bild: Lässt auch Herzzerreißendes in „Bungalow“ nicht aus: Helene Hegemann
Helene Hegemann hat mit „Bungalow“ ein sehr gutes Sozialdrama geschrieben,
eine unausgegorene Coming-of-Age-Liebesgeschichte und eine irritierende
Dystopie. Je geringer das Maß an angestrengter Abgeklärtheit, desto besser
ist das Buch. Die kühlen Transgressionen sind öde; krass ist der neue Roman
der 26-Jährigen, wenn er in seiner Ehrlichkeit schonungslos ist, nicht in
seinen provokanten Posen.
Gleich im zweiten Absatz kommt der erste betont gelangweilte Orgasmus, und
da möchte man das Buch schon wieder aus der Hand legen, aber das erlaubt
die Rezensentenpflicht natürlich nicht, und das ist auch gut so, denn es
folgt, hat man den ziemlich desorientierenden Einstieg erst einmal
überstanden, ein sehr gutes Sozialdrama, unter anderem, wie gesagt.
Dieses sehr gute Sozialdrama handelt von der Einsamkeit eines Mädchens, das
mit seiner psychisch kranken Mutter zusammenlebt, von dem unmöglichen
Gefühl der Ausweglosigkeit, das ein Kind aushalten muss, wenn es sich
irgendwie vor dem Menschen schützen muss, der es eigentlich beschützen
sollte.
Charlie, die zwölfjährige Protagonistin und retrospektivische
Ich-Erzählerin, liebt und verachtet und fürchtet und bemitleidet ihre
suchtkranke, schizophrene Mutter, mit der sie in einer kleinen
Sozialbauwohnung gefangen ist. Sie blickt auf die Welt herab, damit niemand
merkt, wie klein sie sich fühlt; sie lehnt jeden ab, weil sie auf jeden
neidisch ist. Hegemann nimmt dieses Szenario sehr ernst und zeichnet das
Bild einer Verwahrlosung mit der angemessenen Komplexität und einer
Zartheit, die man von ihr vielleicht nicht erwartet hätte.
## Kekse spielen eine entscheidende Rolle
In einer geradezu herzzerreißenden Szene lässt sie den Wunsch des Mädchens
nach einer gesunden Mutter und einer normalen Familie und ihre aus deren
Krankheit erwachsenen Minderwertigkeits-komplexe offenbar werden. Die
Szene, die man aufgrund ihrer Bereitschaft zur Gefühligkeit eher in einem
Film von Steven Spielberg als in einem Roman von Helene Hegemann erwarten
würde, soll hier nicht vorweggenommen werden, nur so viel: Lidl-Kekse
spielen eine entscheidende Rolle, und die Stelle ist wirklich sehr traurig
und schön.
Von ihrem Balkon aus blickt Charlie auf eine Bungalowsiedlung, deren
Bewohner das Versprechen einer besseren Welt verkörpern. Besonders ein
attraktives Schauspielerpaar beobachtet sie von dort aus, während ihre
Mutter in der Küche verdorbenes Fleisch verschlingt oder sich einnässt und
am nächsten Tag so tut, als wäre nichts passiert. Die Schauspieler gefallen
der jungen Charlie also, oder, wie sie es selbst schreibt: „Ich wollte die
ficken.“ Hier weiß Hegemann mit der Geschichte nicht so richtig etwas
anzufangen.
Frühere Coming-of-Age-Passagen des Buches, zum Beispiel das Pornogucken mit
dem Klassenkameraden, sind launige Divertimenti; die Dynamik mit dem Paar
gegenüber aber läuft ins Leere, und um das Ganze irgendwie zu retten, so
hat man den Eindruck, dreht Hegemann gegen Ende eben den Dystopie-Regler
auf Anschlag.
Wenn die Situation mit der Mutter schon aussichtslos ist und auch die
Erzählung mit dem Paar ins Nichts führt, lässt sich auf den letzten Metern,
war wohl der Gedanke, mit zünftiger Weltuntergangs-Symptomatik eine
narrative Form simulieren. Die apokalyptischen Anklänge, die den Roman mit
einem Grundbrummen begleiten, um später zu dominieren, sind vielleicht als
metaphorische Spiegelungen des Kernkonflikts zwischen Charlie und ihrer
Mutter lesbar, sie bleiben jedoch unbefriedigende Andeutungen und
unheilvolles Rauschen.
## Die nihilistische Haltung durchbrochen
Es ist erstaunlich, wie in Hegemanns Schreiben auf kluge Aphorismen und
originelle Metaphern plötzlich Plattheiten und Kalauer folgen, nicht selten
innerhalb eines Satzes, als hätte sie das Buch in manischem Furor
runtergeschrieben, um es aus dem Kopf zu kriegen. Charlies schnoddriger
Tonfall besticht durch Tempo und durchgängige Unterhaltsamkeit, ist in
Sachen Treffsicherheit aber eben nicht gerade konsistent.
Durchbricht Hegemann die nihilistische Haltung ihrer Hauptfigur und
offenbart sie die Verletzlichkeit, die diesem Habitus zugrunde liegt, läuft
sie als Autorin zur Höchstform auf. Die ständige Angst, in der Charlie
lebt, macht Helene Hegemann dann in einem genau beobachteten,
klaustrophobischen Kammerspiel auf beeindruckende Weise erfahrbar.
Kaum zu ertragen ist die sture Hoffnung des Mädchens, doch zu ihrer Mutter
durchzudringen, gesehen zu werden, sich endlich sicher zu fühlen.
16 Sep 2018
## AUTOREN
Jan Jekal
## TAGS
deutsche Literatur
Roman
Literatur
Coming-of-Age-Film
Pubertät
Roman
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