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# taz.de -- Zweiter Hegemann-Roman: Das (Anti-)Gesellschaftspanorama
> Nach „Axolotl Roadkill“ kommt jetzt Helene Hegemanns zweiter Roman, „Ja…
> zwei Tiger“. Er ist ist ein großes, finsteres Lesevergnügen.
Bild: Ihr neuer Roman „Jage zwei Tiger“ besticht durch den durchleuchtenden…
„They only want you, when you’re 17, when you’re 21, you’re no fun.“ …
Zeile der US-Rapperin Azealia Banks taucht in Helene Hegemanns zweitem
Roman nach zwei Dritteln auf, kurz nachdem sich die Autorin überraschend
mitten im Romangeschehen zu Wort gemeldet hat wie eine gute, nur etwas aus
dem Blick geratene Kumpeline der gerade nach Italien ausgewanderten
Protagonistentruppe.
„Was hab ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich gemacht? Entweder
argentinisches Rindfleisch gegessen, ferngesehen oder versucht, eine
Pradatasche beim Flippern zu gewinnen […]. Aber es geht hier nicht um mich,
es geht um Minderjährige in Extremsituationen.“
Dieser kleine Einschub ist, um es mit der Autorin zu sagen, ein „guter
Move“. Helene Hegemann war 17 und hatte bereits einen preisgekrönten Film
(„Torpedo“) gedreht, als sie mit ihren Debütroman „Axolotl Roadkill“ e…
Bestseller schrieb und dafür Anerkennung und Aufmerksamkeit einfuhr –
jedenfalls bis ihr eine (sehr überschaubare) Copy-Paste-Passage aus einem
anderen Roman nachgewiesen wurde.
Wenn sie jetzt mit 21 ihr zweites Buch vorlegt – die Releaseparty wird
natürlich standesgemäß in der hippen Kreuzberger Kunst-Location St. Agnes
gefeiert –, dürften die kritischen Maßstäbe (noch) strenger geworden sein.
Zum einen wegen des Plagiatsvorwurfs, auf den sich Helene Hegemann mit
einem winzigen, dafür betont akribischen Literaturverzeichnis bezieht. Aber
auch der speziell „authentische“ Reiz, der dem Debüt zugrunde lag, steht
auf dem Spiel. Dessen Heldin Mifti, die nach dem Tod ihrer Mutter mit 13
Jahren zu ihrem „kulturschaffenden“ Vater nach Berlin zog, wies einfach zu
viele biografische Ähnlichkeiten mit Hegemann auf, um nicht als ihr
literarisches Alter Ego betrachtet zu werden.
## Hegemann will als Künstlerin betrachtet werden
Mit der eingangs zitierten Passage stellt Hegemann beiläufig und
entschieden klar, dass sie sich ihrer Rolle als Literaturstar sowie
sämtlicher Erwartungen, die an sie gestellt werden, bewusst ist. Und dass
sie sich nicht (mehr) mit ihren minderjährigen HeldInnen identifiziert,
sondern als Künstlerin betrachtet werden möchte.
„Jage zwei Tiger“ (statt zweier Hasen) heißt entsprechend kämpferisch der
von der slowenischen Künstlergruppe Laibach geborgte Titel. Ein Imperativ,
den Hegemann locker toppt, denn es sind drei ProtagonistInnen, deren
Geschichten sich im Roman tragisch-elegant kreuzen und zu surrealen Happy
Ends verknoten. Da ist Kai, der mit 11 Jahren bei einem Autounfall seine
Mutter verliert, Samantha, die 14-jährige Zirkusprinzessin, der ein
Unterarm fehlt, und Cecile, von Hegemann lässig mit einer Parenthese
eingeführt: „(siebzehn Jahre alt, schweißtreibende Gewaltfantasien, neue
Protagonistin)“.
Kai begegnet Samantha auf der Flucht von der Unfallstelle, als er
„realisierte, wie stillos und inadäquat es sein würde, morgen beim
Kinderpsychologen das Verhältnis zu seinem Vater mit dem spontan gewählten
Abstand zwischen zwei Bauklötzen zu visualisieren“. Durch die Katastrophe
schlagartig gereift, verliebt er sich in sie, nicht ahnend, dass Samantha
zu den vier Jugendlichen gehörte, die gerade mit einem Steinwurf von der
Autobahnbrücke den Tod seiner Mutter verursacht haben.
Über seinen Vater, den Galeristen und Schwerenöter Detlev, trifft er später
auf Cecile, eine wohlstandsverwahrloste Internatsschülerin, die von Ritzen
und Magersucht über Sex mit deutlich älteren Männern und Frauen bis zum
Drogendealen keine Form der Rebellion auslässt.
Es lohnt sich, die Beschreibung ihres schwerreichen Elternhauses in voller
Schönheit zu zitieren: Es „war eingerichtet nach den plausibelsten
Standards einer mit Raffinesse gekoppelten großbürgerlichen Schlichtheit,
also keine prollige Grandezza, keine Angeberei, nur subtile, gut
angeordnete Elemente verschiedener Epochen, die aufs Genaueste den hohen
Grad an Wissen, Stilbewusstsein und Interesse am Nicht-Materiellen
widerzuspiegeln hatten, den die Besitzer trotz ihres selbst erarbeiteten
Reichtums aufrechtzuerhalten wussten … es war perfekt, es arbeitete sich
’sympathisch‘ und ’bescheiden‘ an allen existenten Codes zeitgenössisc…
Inneneinrichtungsmagazine ab, es war tot.“
## Phrasen und Schlaumeiereien des Kulturbetriebs
Zack – so klingt er, der alles durchleuchtende und sezierende
Hegemann-Sound, der sich problemlos jeden Jargon aneignen und ihn zugleich,
ein winziger Nachsatz genügt, zur Kenntlichkeit verzerren kann. Es sind die
Phrasen und Schlaumeiereien des Kulturbetriebs und der Geschmacksindustrie
selbst, die einem hier um die Ohren fliegen.
Hegemann projiziert ihren alles Eitle, Verlogene und Etablierte witternden
und vernichten wollenden Blick auf die drei Jugendlichen, und so
verschieden Samantha, Cecile und Kai durch Geschlecht, Herkunft und
Biografie auch scheinen, sie bleiben alle WiedergängerInnen der kleinen
Mifti aus „Axolotl Roadkill“. Egal ob ihnen ein Eltern- oder Körperteil
abhanden gekommen ist oder ihre Mütter und Väter nur restlos mit sich
selbst beschäftigt sind (und sie ihnen das bewundernswert großmütig
verzeihen): Diese umfassend verwaisten Kinder leiten aus ihren Verlusten
und Leerstellen eine maximale und maximal artifizielle Lebensgier ab – bei
gleichzeitiger Radikalverachtung all dessen, was als gesund und normal
gilt.
„Er interessierte sich für ausnahmslos alles“, heißt es über Kai. „Wei…
realisierte, dass er keine zweite Katastrophe überleben würde.“ Samantha
denkt, „wenigstens sinngemäß: Wow, was wollen die alle mit detaillierten
literarischen Schilderungen von sich durch Butterbrotpapier nässendem
Frischkäse, mich interessieren Weltkriege, verdammte Scheiße.“ Und auf
einem Madonna-Konzert realisiert Cecile: „Es ging […] um die Auflösung von
Grenzen. Zwischen Geschlechtern, zwischen Arm und Reich und Alt und Jung
und Gut und Böse.“
So schildert Hegemann nicht nur mit diabolischem Witz die
Seitensprungreisen und Wohlstandspartys, auf die die Sammler- und
Galeristeneltern ihre Kinder mitschleifen. Sie lässt ihre Schützlinge auch
den Gegenentwurf einlösen: in ihren oft von Zartheit gekennzeichneten
Freundschaften, in ihrer Offenheit gegenüber Abweichungen von der Norm, in
unkonventionellen Leidenschaften, die etwa Cecile zu Kais Vater oder einer
älteren Frau empfindet. Vor allem aber in der eher dreckigen als romantisch
verklärten Wormser WG aus Kiffern, Dealern und Behinderten, der sich Cecile
vorübergehend anschließt, scheint im zweiten Teil des Romans ein bizarres
Utopia auf.
## Der Roman birst vor Ereignissen
Obwohl „Jage zwei Tiger“ stilistisch deutlich geschliffener und souveräner
ist als sein Vorgänger, ist es wieder ein wildes, alle Maßstäbe von
Konsistenz und Ausgewogenheit mit voller Absicht sprengendes Buch geworden.
Hat Hegemann gerade noch raffiniert mit Vor- oder Rückblenden gespielt,
verliert sie sich kurz darauf in Lebensläufen einer Nebenfigur oder der
detaillierten Wiedergabe eines Pseudofachgesprächs unter Kunstfuzzis.
Der Roman birst vor Ereignissen, und doch wirkt er eher wie eine ruhelose
Zustandsbeschreibung oder ein Haltungsmanifest, in dem es fast leichter
fällt, sich mit den unablässigen Distanzierungsbewegungen der Autorin zu
identifizieren als mit einer der ProtagonistInnen. Diese sind schließlich
keine psychologischen Charaktere, sondern Auserwählte, die Veränderung
nicht als Entwicklung, sondern als schockartige Erleuchtung erfahren. Auf
Um- und Irrwegen lotsen sie den Leser durch Helene Hegemanns eigentliches
Projekt: ein umfassendes (Anti-)Gesellschaftspanorama, das vom Wanderzirkus
bis zur High Society reicht.
Und das ist ein großes, bewegendes, oftmals finsteres Lesevergnügen. „Wenn
Du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll“, heißt es im vorangestellten
Laibach-Zitat, aus dem auch der Titel stammt. Im Gegensatz zum Scheitern
ist Helene Hegemann der Glanz gewiss.
26 Aug 2013
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
Roman
Literatur
deutsche Literatur
Plagiat
Nachruf
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