# taz.de -- Coming-of-Age-Drama „Ava“: Das unbedingte Abenteuer | |
> „Ava“ ist radikal auf der Suche. Das Regiedebüt von Léa Mysius ist ein | |
> preisgekröntes Coming-of-Age-Drama. Nur wirkt der Film leider etwas | |
> provisorisch. | |
Bild: Avas und Juans Flucht beginnt mit einem Gewehr – mit dessen Hilfe sie s… | |
Als Regisseurin schaffte Léa Mysius direkt den Sprung an die Croisette. Das | |
Filmfestival von Cannes zeigte dort „Ava“ – so heißen die Protagonistin … | |
der Titel des Films, der sich am Anfang wie eine klassische | |
Coming-of-Age-Geschichte entwickelt. Die 13-jährige Ava (Noée Abita) | |
erfährt kurz vor den Sommerferien, dass sie aufgrund einer seltenen | |
Krankheit ihr Augenlicht verlieren wird. Kurze Zeit später fährt sie mit | |
ihrer Mutter (Laure Calamy) und der einjährigen Halbschwester in den | |
Urlaub. | |
Es soll ein entspannter Familienurlaub werden, doch die Risse in der | |
Mutter-Tochter-Beziehung kommen schnell zum Vorschein. Die Mutter gibt sich | |
verständnisvoll, bandelt aber direkt mit einer Strandbekanntschaft an und | |
degradiert Ava zur Babysitterin. Sie ist frustriert, ekelt sich geradezu | |
vor der Promiskuität ihrer Mutter, was von der Intensität der Darstellung | |
fast an Xavier Dolans Spielfilmdebüt „J’ai tué ma mère“ herankommt. Ei… | |
ihrer Mutter bereits arrangiertes Date mit einem Jungen will Ava daher | |
einfach nur hinter sich bringen, doch innerlich fühlt sie sich leer. | |
Nachts wandert sie die Strände entlang, sehen kann sie bei Dunkelheit fast | |
nichts mehr. Dann begegnet sie Juan: Der rätselhafte Junge lebt mit seinem | |
Hund am Strand und fällt im Ort vor allem als kleinkrimineller Outlaw auf. | |
Als Ava ihn bei einem Streit beobachtet, ist sie wie paralysiert, kann den | |
Blick nicht von ihm abwenden. Sie spioniert ihm hinterher und stiehlt | |
seinen Hund, um mit dem scheuen Außenseiter in Kontakt zu kommen. In einem | |
merkwürdig kindlich-erotischen Versteckspiel finden sie schließlich | |
zueinander und verbringen die Nacht gemeinsam in einem verlassenen | |
Nazibunker am Strand. | |
Statt die sensible Charakterstudie weiter zu erzählen, kippt Mysius Film | |
nun allerdings ins Groteske. Als die Polizei Juan am nächsten Morgen | |
aufgrund eines Diebstahls verhaften will, greift Ava zu seinem Gewehr und | |
bedroht die Polizisten. Sie fliehen, und die unwirkliche | |
Sommerlager-Stimmung weicht einer surrealistischen Orgie: Als blau bemalte | |
Sandstrand-Indigene rauben die beiden fette FKK-Touristen aus, bevor sie | |
mit einem geklauten Motorrad das Weite suchen. | |
Ein spröder Roadtrip beginnt, der den Film in eine gänzlich neue Richtung | |
führt. Spätestens hier weiß „Ava“ nicht mehr, was für ein Film er sein | |
möchte. Ava gibt sich Juan hin, obwohl dieser eine andere Frau liebt. Denn | |
zwischen Eifersucht und Lässigkeit will Ava das unbedingte Abenteuer, sie | |
will es jetzt und lässt ihre Familie zurück. Dieser Bonny-und-Clyde-Plot | |
wirkt allerdings merkwürdig angeklebt und führt zu einem sehr losen, | |
unbefriedigenden Ende. | |
Als sich herausstellt, dass Juan ein von seiner Familie verstoßener Roma | |
ist, werden die Minderheit und ihr prekäres Leben zur problematischen | |
Projektionsfläche von Avas jugendlichem Drang. Auch dass diese ihr | |
Augenlicht verliert, scheint kaum noch eine Rolle zu spielen. Außer ihrer | |
Schwierigkeit, im Dunkeln etwas zu sehen, wird das Sujet nicht weiter | |
ausformuliert. Das überrascht, weil es zu Beginn des Films so | |
bedeutungsschwer eingeführt wurde. | |
Vielleicht merkt man hier am ehesten, dass „Ava“ ein Regiedebüt ist und | |
versucht, viele lose Enden zusammenzuspinnen. Avas Sexualität wird zum | |
Beispiel im Vergleich zu ihrer Krankheit geradezu überbelichtet: In | |
häufigen Nacktszenen der im Film 13-jährigen Ava wird ihr Körper in einer | |
Art und Weise der Kamera ausgesetzt, die im Verhältnis zum Rest des Films | |
schief wirkt. Denn damit wird genau jene Sexualisierung produziert, der Ava | |
als Figur entgehen möchte. | |
Apropos Kamera: Optisch ist der Film ein kleines Juwel und schafft mit | |
seinen beweglichen Einstellungen ein wunderbares Abbild von Avas | |
wellenartigen, sich widerstrebenden Emotionen. Als sie nachts im Meer | |
badet, um ihren Körper auch ohne Licht spüren zu können, ist man ganz nah | |
an der Hauptfigur. Und auch die Szenerie scheint mit Avas Verwilderung | |
zunehmend zu verfallen – es tröpfelt, rostet und bleicht förmlich durch die | |
Bilder. | |
Noée Abita liefert zudem eine ziemlich formidable Performance ab und | |
schafft es, ihrer Hauptfigur ein meistens ziemlich unlesbares, aber | |
trotzdem ausdrucksstarkes Mienenspiel zu verleihen (Ava lacht während des | |
gesamten Filmes nur ein einziges Mal). | |
Auch Juan Cano als Juan ist eine echte Entdeckung, er ist Laie und wurde in | |
einem langwierigen Casting in den Romasiedlungen rund um Bordeaux entdeckt. | |
Das macht Ava insgesamt zu einem beeindruckend anzusehenden Film, der eine | |
Vielfalt von Motiven mit schon fast traumwandlerischer Intuition auf die | |
Leinwand bringt. Leider erschließt sich deren Zusammenhang zu wenig, sodass | |
sich Ava am Ende etwas provisorisch anfühlt. | |
25 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Johannes Bluth | |
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